ÜberLebensweg Philipp B.

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich wurde reingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Von Kindheit an wurde mir klar gemacht, dass die Religion an erster Stelle im Leben zu stehen habe.
Auch vor der Familie. 
Die Woche bestand aus dem Besuch dreier Zusammenkünfte, das Studieren des Wachtturms als Familie, sowie mindestens einmal von Haus zu Haus predigen gehen. Dementsprechend war ich auch immer anders als meine Klassenkammeraden etc. Weihnachten, Geburtstage etc. waren tabu. Das hat mir aber nicht viel ausgemacht, denn ich war davon überzeugt, der „Wahrheit“ anzugehören und daher „besser“ zu sein als „die Weltmenschen“.
Mit zunehmenden Alter und der Pubertät hatte ich dann mit extremen Gewissensbissen zu kämpfen.
Normale Entwicklungen, wie das erste Mal verliebt zu sein haben mir schwer zu schaffen gemacht, denn ich hatte ständig Angst etwas zu tun, was Jehova missfallen könnte. Ich versuchte alle derartigen Gefühle so gut es ging zu unterdrücken.
Die Religion wurde immer mehr zu einer Belastung für mich. Ständig hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich befürchtete nicht genug getan zu haben und mich nicht genug für die Religion eingesetzt zu haben.
Ich lernte, je nachdem wer mir gegenüberstand, eine andere Rolle zu spielen.
Das sah dann beispielhaft so aus:
Unterhielt ich mich mit Bruder A konnte ich z.B. etwas offener über das Thema Filme sprechen, denn Bruder A sah das Thema Filme auch etwas lockerer. Das Thema Musik musste ich aber vermeiden. Darüber konnte ich mich dann aber mit Bruder B unterhalten, der wiederum sehr kritisch gegenüber dem Thema Filme eingestellt war.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Der Druck, Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle und die Tatsache, dass ich mich in eine Nicht-Zeugin verliebt hatte führten zu einer Depression, welche so schlimm wurde, dass ich stationär behandelt werden musste. Ich erkannte zu diesem Zeitpunkt aber nicht was der Grund war, bzw. wollte es nicht wahrhaben.
Vor meinem Klinikaufenthalt wurde mir noch eingeschärft, dass ich nicht erwähnen soll, dass ich ein Zeuge Jehovas sei. Denn Satan würde auch die Ärzte nutzen, um mich vom Glauben abzubringen.
Während meines Aufenthaltes lernte ich viele sehr nette Menschen kennen, die teils sehr heftige Erlebnisse zu verarbeiten hatten. Ich begann mich zu fragen, warum sie alle den Tod in Harmagedon verdient haben sollen.
Auch war es ein sehr tolles und neues Gefühl sich mit Menschen anzufreunden, die einen akzeptierten wie man ist. Bedingungslose Freundschaften kannte ich bis dahin nicht.
Da ich kein Wort über meine Religionszugehörigkeit verloren habe waren auch die Ärzte recht ratlos, was mit mir los ist. Beim Abschlussgespräch sagte mir dann eine Pflegerin direkt „Herr B., sie verschweigen hier etwas vor uns. Und das ist ihr eigentliches Problem!“. Dieser Satz ließ mich nicht mehr los.
Als ich nach mehreren Monaten wieder die Zusammenkünfte besuchte fühlte ich mich auf einmal nicht mehr wohl. Es gelang mir immer schlechter in diverse Rollen zu schlüpfen und meine eigenen Wünsche und Gefühle zu unterdrücken. Schlussendlich gestand ich mir ein, dass das Einzige, was ich in der Klinik verschwiegen habe, die Religion ist und nach langen Gewissenskonflikten akzeptierte ich die Möglichkeit, dass es vielleicht doch daran liegen könnte. 
Ich kaufte mir heimlich das Buch „Goodbye, Jehova!“, las es innerhalb von 2 Tagen durch. Dann kaufte ich mir das Buch „Der Gewissenskonflikt“ und dann war mir klar, was mein Problem ist. 
Per Brief verließ ich dann die Zeugen Jehovas.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 

Sehr.
Für mich war es die Wahrheit und daran gab es keine Zweifel.
Kritische Berichte oder Fragen sind an mir abgeperlt wie an einer Lotusblüte.

5. Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Siehe Punkt 3

6. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja.
Alle meine Freunde und der Großteil meiner Familie haben umgehend den Kontakt zu mir abgebrochen.
Als ich einmal meiner Schwester und ihrem Mann begegnet bin, wechselten sie die Straßenseite.

7. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Heute geht es mir gut.
Die Depressionen sind verschwunden, ich bin glücklich verheiratet und habe zwei Kinder.
Es war aber ein längerer Prozess, bis es so weit war.
Anfangs kam ich mir sehr dumm vor, wie ich so lange (28 Jahre) solch einer Religionsgemeinschaft angehören konnte und es nicht früher kapiert habe. Bis heute kann ich nicht verstehen, wie solch ein Verhalten unter dem Deckmantel der Religion in unserer heutigen Gesellschaft geduldet wird, welche vorgibt, dass Toleranz und Diversität an oberster Stelle stehen. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich habe gelernt, meine Vergangenheit zu akzeptieren und auch wenn der Weg in die Freiheit sehr schwer war, es hat sich gelohnt.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

An die Interessierten: Bitte informiert euch!
Es gibt genug Material, welche klar zeigt, wie falsch die Zeugen mit ihren Lehren liegen.
An die Noch-Zeugen: Wenn es die wahre Religion ist, warum ist dann jegliche Art von kritischer Literatur (defacto) verboten?

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