ÜberLebensweg – Nenad aus Wien

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Die Zeugen Jehovas klopften an unsere Tür und meine Eltern ließen sich auf ein Heimbibelstudium ein. Mit sechs Jahren fing ich ebenfalls an zu studieren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Wöchentlich lernte ich die Bibel mit einer Zeugin Jehovas kennen. Sie nahm oft eine weitere Person mit und ich lernte über die Jahre viele weitere Mitglieder kennen.

Mit 16 Jahren wechselte ich zu einem männlichen Zeugen Jehovas. Manchmal war seine Frau dabei und ich sah in ihnen Ersatzeltern. Tatsächlich hatte ich Spaß an dem Studieren. Die Lehren hinterfragte ich nie, weil sie für mich logisch und nachvollziehbar erschienen, bis auf eine.

Ich kämpfte am meisten mit meiner Sexualität. Bereits in jungen Jahren hatte ich gleichgeschlechtliche Gefühle. Homosexuelle Handlungen sind schwere Sünden und versperren den Weg in das Paradies, besagt 1 Korinther 6: 9-10. Danke Paulus für die weisen Worte.

Die andauernden Schuldgefühle führten zu Selbsthass, selbstverletzendem Verhalten, Depressionen und Lebensmüdigkeit.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

GOTT SEI DANK ließ ich mich nicht taufen. Bedeutet, ich wurde nicht ausgeschlossen bzw. geächtet.

Wie bereits oben erwähnt, kämpfte ich mit meiner sexuellen Identität und in der Folge mit selbstverletzendem Verhalten. Letztendlich musste ich mich entscheiden – Jehova oder mein wahres ICH. Also beendete ich mein Heimbibelstudium, die Beziehung zu meinen Ersatzeltern, meine Freundschaft zu Jehova und begann eine Psychotherapie.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?

In der Gemeinschaft nicht stark, weil ich die Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas nicht oft besuchte. Ich fühlte mich unwürdig und sündhaft, dennoch glaubte ich an Jehova, selbst nach dem Abbruch meines Heimbibelstudiums.

Im Dezember 2020 sah ich auf YouTube Videos über ehemalige Zeugen Jehovas. Von sexuellem Kindesmissbrauch war die Rede. Die Wachtturm-Gesellschaft und ihre Verbindung zur UNO, die falschen Weltuntergangs vorhersagen und weitere Informationen regten mich zum Zweifeln an.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Da ich nicht getauft wurde, bin ich nicht von Ächtung betroffen. Aber meine Ersatzeltern wollen trotzdem keine Beziehung zu mir, weil ich Jehova verlassen habe. Wir werden uns wahrscheinlich nicht mehr sehen, dennoch empfinde ich viel für sie.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mir geht es deutlich besser. Nach dem endgültigen Ausstieg vor 2 Jahren hatte ich Höhen und Tiefen. Ich kämpfte wieder mit Depressionen und Lebensmüdigkeit. Letztes Jahr beschloss ich die Rettung anzurufen, weil mich meine suizidalen Gedanken stark belasteten.

Aktuell spielen soziale Kontakte eine große Rolle in meinem Leben. Verlustängste hinderten mich Beziehungen jeglicher Art einzugehen. Gerade Menschen, die mir viel bedeuten, spenden mir Kraft und Lebensfreude, die ich lange nicht hatte.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Meine Vergangenheit hat nicht nur negative Seiten. Ich fühle mich endlich frei und kann die Person sein, die ich immer sein sollte.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Die meisten Menschen wollen irgendwo dazugehören. Problematisch sind aus meiner Sicht folgende Punkte:

* Rahmenbedingungen, die schädlich bzw. tödlich sind
(Bluttransfusionsverbot);
* Maßstäbe, die nie erreicht werden können;
* Personen, die unauthentisch sind;
* Wenn mit Schuldgefühlen und Angst gearbeitet wird, um die Person in der Organisation zu behalten;
* Ehemalige ZJ als Abtrünnige zu bezeichnen, wodurch sie deformiert werden. Der Kontakt ist ebenfalls verboten;
* Eine Hoffnung beworben wird, die niemals eintreten wird.

Falls sich Interessierte dennoch dazu entscheiden, ist Rat sinnlos und manchmal kontraproduktiv, weil die Attraktivität dadurch stärker werden kann.