ÜberLebensweg Kristina aus Hessen

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Meine Familie ist nach Deutschland gezogen, als ich 5 Jahre alt war. Meine Eltern hatten natürlich einen schweren Anfang, hatten zwei kleine Kinder im Gepäck und konnten kein Wort Deutsch. Da standen Zeugen Jehovas aus der russischen Gemeinde vor der Tür. Die haben meinen Eltern viel geholfen in dieser Situation und so haben meine Eltern ein Bibelstudium angefangen und uns natürlich mitgenommen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Als Kind hatte ich tatsächlich nicht besonders viel damit zu tun. Ich hatte eine normale Kindheit, war draußen mit den Nachbarskindern usw. Ich erinnere mich aber trotzdem an bestimmte Ereignisse, die für mich sehr belastend waren. Zum einen waren es die Feiertage in der Schule. Ich wusste, dass ich nicht mitfeiern darf, aber wusste nicht wieso. Es war sehr schwer für mich der ganzen Klasse zu erklären, wieso ich etwas nicht mitmachen darf, obwohl ich das selber nicht richtig verstanden habe. Wurden Weihnachtslieder im Musikunterricht gesungen, musste ich rausgehen, andere Bilder ausmalen als Weihnachtsbilder usw. Es hat mich natürlich auch sehr traurig gemacht, keine Feiertage mehr zu feiern, da ich ja bis zu meinem 6. Lebensjahr alles feiern durfte. Ich denke, jeder kann nachvollziehen, wie sich das alles für ein kleines Kind anfühlen muss. Dazu kam noch, dass meine Mutter mich immer mit in den sogenannten Dienst, also das Haus zu Haus predigen mitgeschleppt hat. Da meine Mutter zu dem Zeitpunkt sehr schlecht Deutsch sprach musste ich sprechen, falls jemand aufgemacht hat, der kein Russisch verstanden hat. Mit 13 Jahren haben die Ältesten mit meiner Mutter beschlossen, dass eine erfahrene Pionierschwester mit mir studieren soll, da sich schon jüngere Kinder in unserer Versammlung taufen ließen und ich immer noch keinen Anschein dazu machte :D. Sie hat tatsächlich geschafft, das Feuer in mir zu entflammen. Ich habe angefangen, daran zu glauben, habe mich mit 15 Jahren taufen lassen und mich an alle Regeln gehalten. Ich habe sehr viel mit der Gemeinde, bzw. Versammlung gemacht, sehr viel Bibel gelesen, studiert, gebetet, gepredigt, mich immer bei allen möglichen Veranstaltungen mit eingebracht. Ich habe in den Ferien immer den Hilfspionierdienst gemacht, also 50 Stunden im Dienst verbracht. Freunde hatte ich nur in der Gemeinde und von meinen Mitschülern habe ich mich immer weiter distanziert, da sie schlechter Umgang waren, so wurde es mir zumindest beigebracht. Ich galt als sehr vorbildlich und durfte sogar Aufgaben übernehmen, die eigentlich nur Männern vorbehalten waren, weil wir zu wenige Brüder hatten. Ich durfte Mikrofondienst machen und die Anlage bedienen. Ich war eine 100 % überzeugte Vollblutzeugin, allerdings waren leichte Zweifel immer da. Diese habe ich erfolgreich unterdrückt.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Mit ca. 18 Jahren habe ich angefangen mich auszuprobieren und Dinge getan, die man als Jugendliche nun mal so macht. Unter anderem Partys, Rauchen, Alkohol und natürlich Jungs. Dafür, insbesondere für das Rauchen und für einen anderen Grund (den ich öffentlich nicht nennen möchte), wurde ich ausgeschlossen, da diese Dinge als Sünde gelten. Dazu muss ich sagen, dass mit mir mehrmals gesprochen wurde, bevor es zum Ausschluss kam und ich mich auch eher provokant verhalten habe. Nach meinem Ausschluss habe ich angefangen mich selbst zu suchen. Ich habe zu dem Zeitpunkt noch geglaubt, dass die Zeugen Jehovas die wahre Religion sind. Ich dachte einfach, ich wäre zu schlecht. In dieser Zeit habe ich mich langsam drastisch verändert. Ich bin ein komplett anderer Mensch geworden. Angefangen von meinem Äußeren bis hin zum Charakter. Kurz gesagt bin ich einfach ich selbst geworden. In dieser Zeit hatte ich auch meine erste große Liebe kennengelernt. Ungefähr zwei Jahre später habe ich mich dazu entschieden, mich wieder aufnehmen zu lassen. Am Anfang kam das ganze „Lovebombing“ und alle waren natürlich froh, mich wieder zu haben. Das hielt allerdings nicht lange an. Nach ungefähr einem halben Jahr habe ich endgültig mit den Zeugen Jehovas gebrochen und bin von mir aus gegangen. Dieses Mal mit dem Verständnis, dass es sich hierbei um eine Sekte handelt.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Wie oben schon erwähnt war ich sehr stark im Glauben verankert. Sogar nach meinem Ausschluss habe ich daran geglaubt. Meine ersten Zweifel kamen tatsächlich mit meiner erneuten Aufnahme. Um bei den Zeugen Jehovas wieder aufgenommen zu werden, muss man unter anderem die Gottesdienste regelmäßig besuchen. Das habe ich 7 Monate lang gemacht, dabei hat keiner mich auch nur gegrüßt. Nach der Aufnahme habe ich erfahren, weshalb das alles so lange gedauert hat. Die Ältesten sind davon ausgegangen, dass ich mit meinem Freund Sünde begangen hatte. Ich war 7 Monate mit ihm zusammen und genau deswegen hat es auch 7 Monate gedauert. Die haben also über mich entschieden und sind direkt vom Schlimmsten ausgegangen, ohne mich zu fragen… ich war einfach schockiert! Nach der Aufnahme habe ich gemerkt, dass viele in meinem Alter es mit der Religion nicht so genau nehmen wie ich. Ich war zunächst vom Menschlichen einfach enttäuscht. Diese Menschen hatten sich nicht christlich verhalten. Ich habe mich zurückgezogen und wurde daraufhin auch von einigen meiner „Freunde“ blockiert und ignoriert. Ein Bruder, den ich um Hilfe gebeten hatte meinte zu mir, ich solle doch meine weltlichen Freunde fragen. Dazu kam der Druck der Ältesten, dass ich wieder in den Dienst gehen soll. Das kam für mich überhaupt nicht mehr in Frage. Darauf habe ich eine Nachricht von einem Ältesten bekommen, ob ich es wirklich riskieren will, wegen der FEHLER von Brüdern in Harmagedon zu sterben. Ich habe angefangen, über Zeugen Jehovas im Internet zu recherchieren. Dabei habe ich gemerkt, dass diese Menschen im Internet keine falschen Informationen verbreiten, wie von der Leitenden Körperschaft [Die Leitende Körperschaft ist das Führungsgremium der Zeugen Jehovas mit Sitz in New York, welches die Geschicke und Lehren der Gläubigen weltweit lenkt und steuert. Anm. jz.help] behauptet wird, sondern wahre Dinge, die ich ebenfalls erlebt habe. Ich habe verstanden, dass es eine Sekte ist und damit gebrochen.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Nach meinem ersten Ausschluss hatte ich sehr viel Streit mit meiner Mutter und im Endeffekt hatte sie mich rausgeschmissen und wir hatten dann auch ca. 1 Jahr keinen Kontakt. Sie hat ihren Fehler aber eingesehen und aktuell haben wir sehr guten Kontakt. Sie unterstützt mich sehr viel. Auch bei Dingen, die sie nicht vertritt. Über das Thema Zeugen reden wir einfach nicht. Bis auf ein paar ältere Damen aus der Gemeinde haben alle den Kontakt abgebrochen. Bei meinem zweiten Weggang habe ich dann selber den Kontakt zu allen abgebrochen. Ich habe verstanden, dass das keine wahren Freunde sind und dass ich sowas nicht brauche. Ich habe Freunde gefunden, die mich so nehmen wie ich bin, ohne Religion oder sonstiges. Ich vermisse diese Menschen gar nicht und bin recht froh, den Absprung relativ früh geschafft zu haben. Natürlich hatte ich dort auch schöne Zeiten und natürlich gibt es dort auch gute Menschen, das muss ich dazu sagen. Denke, dazu trägt aber meine Mutter bei, die trotzdem zu mir steht und der Rest meiner Familie nicht bei den Zeugen ist.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Heute geht es mir sehr gut und ich habe das alles recht gut hinter mir gelassen. Die Lehren habe ich sofort abgelegt aber einige Züge, wie z.B. dass ich mir schnell Schuldgefühle einreden lasse hatte ich noch ne Zeit lang. Daran habe ich aber sehr gut gearbeitet. Ich weiß aber auch, dass ich eher die Ausnahme bin. Ich habe sehr viele Menschen kennengelernt, die viele psychische Probleme haben und denen es leider sehr schlecht geht.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich versuche es positiv zu sehen. Es gab auch positive Dinge und ohne diese Erfahrung wäre ich nicht die Person, die ich bin. Ich habe mir selber bewiesen, wie stark ich bin und ich möchte damit anderen helfen. Nochmal passiert mir sowas nicht. 🙂

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Hört auf euer Gefühl. Recherchiert über diese Glaubensgemeinschaft. Hört euch nicht nur die Seite der Zeugen an. Welcher Verein redet denn schlecht von sich selber? Redet mit ehemaligen Mitgliedern, lest euch Berichte und gerichtliche Urteile durch. Befasst euch mit dem Ursprung der ZJ. Mit ihren Lehren. Seid ihr wirklich bereit, eure Kinder im Notfall sterben zu lassen und eine Bluttransfusion zu verweigern? Es mag hart klingen, aber mit genau sowas muss man sich beschäftigen. Seid ihr bereit, eure Familie im Notfall zu verlieren, falls ihr oder jemand von der Familie sich dagegen entscheidet? Diejenigen, die zweifeln und aussteigen möchten, sollten sich vorher ein neues soziales Umfeld aufbauen, ggf. auch Kontakt zu Ehemaligen suchen. Ich persönlich würde raten sich davon fern zu halten, aber im Endeffekt muss jeder für sich selber entscheiden. Der Absprung ist definitiv nicht leicht.

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