ÜberLebensweg – Jürgen

Jürgen
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Meine Frau, damals 26 Jahre alt, hatte Besuch von einer Zeugin Jehovas. Es wurde die Frage gestellt, was nach dem Tod passiert; meine Frau hatte Interesse gezeigt und sie haben einen Termin ausgemacht, wenn auch ich da wäre. Das war im Frühjahr 1981. Wir haben dann über diese Frage gesprochen und es kam dann auch zu anderen Fragen. Ich war beeindruckt, dass die Antworten in der Bibel standen. Ich war auch 26 Jahre alt, unsere Kinder waren 5 und 2 Jahre. Wir haben dann nach ca. drei Besuchen ein Studium mit dem Buch „Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt“ begonnen. Die Schwester hat dann sofort das „Du“ angeboten und war sehr übergriffig. Sie kam am Vormittag, ich hatte Schichtpause und meine Frau war zu Hause bei den Kindern. Die ZJs hatte sich beschwert, dass die Kinder während des Studiums störend wirkten.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Die Angst, etwas falsch zu machen, sich immer verstecken zu müssen, wenn man etwas vermeintlich Falsches getan hat. Z.B. das Silvesterfeuerwerk anzuschauen und mit einem Glas Sekt auf das Neue Jahr anzustoßen. Meine Frau hatte das Studium aufgegeben, sodass ich der Einzige ZJ in der Familie war. Meine Frau ging immer zu Ihren Eltern, wenn etwas zu feiern war. Ich kam meistens später hinzu, außer am Heiligen Abend.
Permanenter Zeitdruck. Als ich 1988 DAG [DAG = Dienstamtgehilfe – die Vorstufe zum Ältesten. Anm. jz.help] und 1996 Ältester wurde, hatte ich viel auszuarbeiten. Vorbereitung auf die Versammlung, Vorträge, Hirtenbesuche usw. Das Privatleben mit meiner Familie kam eindeutig zu kurz. Ich hatte immer Zeitdruck, so dass kein entspanntes Familienleben möglich war. Meine Familie und ich litten sehr darunter. Ich sah das aber als notwendig an, ein gutes Vorbild im Glauben zu sein und um meine Familie dadurch für den Glauben gewinnen zu können. Wenn ich mit meiner Familie spazieren ging, musste ich immer auf die Uhr schauen, damit ich nicht zu spät zum Ausarbeiten von theokratischen Dingen oder Versammlungsbesuchen war. Als ich einmal mit meiner Familie und Schwiegereltern im Wald spazieren war, musste ich den Spaziergang abbrechen, weil es schon wieder Zeit war in die Versammlung zu fahren. Meine Frau und die Kinder blieben bei meinen Schwiegereltern und setzten den Spaziergang fort. Ich litt unter dieser Situation, aber es war meine Pflicht in die Versammlung zu gehen.
Meine Frau hatte unter diesem Spannungszustand im Jahr 1982 einen Erschöpfungszustand erlitten. Für sie war nach kurzer Zeit klar, dass diese Religion für sie nicht stimmig war. Sie musste meine Religion akzeptieren, wenn wir zusammenbleiben wollten. Sie hatte Stress mit ihren Eltern. Sie saß sozusagen zwischen den Stühlen. Sie hatte einen Loyalitätskonflikt zwischen mir und meiner Religion und ihren Eltern, die auch gegen die Religion waren. 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Zirka 2006 fühlte ich mich zunehmend überlastet und bat um eine Entlastung. Zunächst wurden meine Aufgaben teilweise von anderen Mitältesten übernommen. Ich hatte dabei aber immer ein schlechtes Gewissen, andere wiederum zu belasten, was der Eine oder Andere auch zum Ausdruck brachte. Ich wusste nicht mehr, wie ich eine Entlastung herbeiführen konnte. Da interessierte sich eine Glaubensschwester für mich. Das kam mir in dieser Situation gerade gelegen und ich ließ mich zum Ehebruch hinreißen. Nach dem ersten Komitee, bei dem ich als Ältester abgesetzt wurde, folgte bald das zweite Komitee mit Ausschluss. Ich bereute vor mir selbst und Gott den Fehltritt und wollte auf jeden Fall wieder zurück, was mir jedoch sehr schwer gemacht wurde.

Um meine Reue zu zeigen, musste ich 1 Jahr lang Woche für Woche in die Versammlung gehen. Der Vorsitzführende Aufseher sprach mich zu Beginn gleich an, dass ich mich nach den Regeln der Organisation zu verhalten hätte. d.h. ich dürfte mit niemandem reden und wenn mich jemand ansprechen wollte, musste ich ihm sofort sagen, dass ich ausgeschlossen bin. Am Besten sollte ich als letzter in die Versammlung kommen und als erster gehen. Das fand ich sehr erniedrigend! In einem Vortrag an die Versammlung, der später gehalten wurde, zeigte der Älteste ein Bild von einem faulen Apfel mit dem er Ausgeschlossene verglich. Den faulen Apfel müsse man entsorgen, damit die „guten“ Äpfel nicht ebenfalls schlecht werden. Damit wollte man mir wohl die nötige Demut beibringen.

Es sprach mich bis auf zwei Ausnahmen keiner an. Ich bekam nun ein ganz anderes Bild von einem Ältesten, der sich persönlich von mir hintergangen fühlte. Er hat mich sehr unfair behandelt und sagte mir, wenn ich das nicht hinnehme würde ich zeigen, dass ich nicht würdig wäre, aufgenommen zu werden. Ich verließ die Versammlung und ging in eine andere, wo ich auch zwei Älteste kannte. Sie waren außerdem Arbeitskollegen von mir, mit denen ich mich gut verstanden habe. Sie unterstützten mich so gut sie konnten.

Mit Hilfe eines Ältesten wurde ich nach ca. einem Jahr wieder aufgenommen. Danach ging ich in eine neue Versammlung, die an dem Ort war, wo wir nun wohnten. Ich dachte, da kennt mich niemand und es würde einfacher werden, mich wieder zu integrieren. Ich spürte von Anfang an eine gewisse Ablehnung in der Versammlung. Als ich die Initiative ergriff und auf einen Ältesten zuging, um mich mit ihm für den Predigtdienst zu verabreden und ihn fragte, wann er denn Zeit hätte, meinte er nur – ohne mich anzusehen – wenn er etwas überhaupt nicht habe, dann wäre es Zeit für mich. Damit war ich wieder psychisch am Boden. So ging es Woche für Woche, keine Ermunterung. Ich wurde krank, bekam meinen Tinnitus, der mich seither treu begleitet. Ein weiterer Wechsel in meine ursprüngliche Heimatversammlung war zunächst sehr positiv. Die Brüder nahmen mich sehr herzlich auf. Als die Versammlungsältesten mich wieder zum DAG machen wollten, hatte der KA [KA = Kreisaufseher – er überwacht mehrere, zu einem Kreis zusammengeschlossene Gemeinden und besucht diese mindestens einmal im Jahr. Er ernennt Dienstamtgehilfen und Älteste. Anm. jz.help] mich abgeblockt. Als ich mit einem Ältesten darüber sprach, meinte er nur, wir hätten uns schon für dich einsetzen können, aber das hätte nur Unruhe beschert. Da war ich wieder am Boden und mir war klar, dass es nicht um die Person, sondern nur um die Organisation ging. So ging es all die Jahre. Mir wurde immer versprochen, dass ich wieder ein Dienstamt bekäme. Mit der Zeit wuchsen bei mir die Zweifel und ich erfuhr, dass die Organisation Aktienspekulation betrieb. 
Als schließlich der Lockdown kam und wir über Internet die Versammlungen abhielten, wuchsen die Zweifel an der Richtigkeit dessen, was uns von oben herab gesagt wurde. Die Videos auf YouTube und die Recherchen haben dann zum endgültigen Bruch mit der Organisation geführt.   

Glauben:
Rückblickend muss ich erkennen, dass mein Glaube nur vom Kopf ausgegangen ist. Ich habe ordnerweise über die Jahre geschrieben und dann begehe ich Ehebruch! Wo war mein Glaube im Herzen? Der Glaube wurde bewusst vom Kopf gesteuert. Warum kann man das sagen? Wenn ich einen sehr nett finde und ich ihn ins HERZ geschlossen habe, dann tue ich ihm nichts Schlechtes an. Die Organisation hat mich so programmiert, dass ich jederzeit von heute auf morgen einen liebgewonnenen Menschen als „Feind“ betrachten kann (siehe Ausgeschlossene). Ich bin losgelöst von meinen persönlichen Gefühlen, nicht mehr fähig selbst zu entscheiden was gut oder schlecht ist. Selbst wenn ich spüre, was richtig wäre, gehorchte ich meinem Kopfglauben und somit war mein „HERZ“ leer. Dadurch, dass ich im geteilten Haus [geteiltes Haus = Nur ein Ehepartner ist Zeuge Jehovas, der andere nicht.] lebte war es für mich nicht ganz so schlimm, kopfgesteuert zu sein. Meine Frau machte mich stets auf den wahren Glaubensinhalt, der das Herz berührt, aufmerksam. Wofür ich ihr sehr dankbar bin. 

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Gemeinschaft:
Bis zu meinem Ausschluss dachte ich, ich wäre im Glauben und in der Gemeinschaft gut verankert. Im Nachhinein muss ich erkennen, dass ich weder in der Gemeinschaft, noch im Glauben im HERZEN fest verankert war.
Ich hatte nie einen guten Freund. Eine gute Freundschaft hätte bedeutet, dass man einem alles sagen kann. Das ist bei ZJ nicht möglich, da das Denunzieren einen wichtigen Faktor bei Zeugen Jehovas darstellt. Es wird zwar als Liebe verkauft, die Fehler eines Mitglieds an die Ältesten zu melden, um denjenigen wieder auf den „rechten Weg“ zu bringen, aber in Wirklichkeit geht es darum, die Organisation „rein“ zu halten. Dadurch war die Beziehung rein „geschäftsmäßig“. Ich wurde auch immer nur angerufen, wenn es irgendwas zu tun gab. Bis auf wenige Einladungen, die ganz nett gewesen wären, wenn nicht dauernd versucht worden wäre, meine Frau zu bekehren. Einmal hat ein Bruder mich eingeladen, eine Fahrt ins Blaue mit ihm und seiner Frau zu machen. Wir wussten nicht wo es hingehen sollte. Nur so viel: sie würden uns mit ihrem Auto abholen und es würde den ganzen Tag dauern. Mir war in gewisser Weise unwohl, weil ich mich um meine Frau sorgte. Ich sollte recht behalten. Kaum im Auto, redeten sie auf meine Frau ein. Das ging, bis wir am Eibsee in den Bergen waren. Auch dort sprach seine Frau auf meine Frau ein. Er ging mit mir und ließ keine Gelegenheit aus, mit anderen Leuten ein biblisches Gespräch anzufangen. Am nächsten Tag erfuhr ich den Grund für die Einladung. Es war der Pionier-Jahrestag seiner Frau. Sie hatte sich vorgenommen, den ganzen Tag Dienst zu machen und da kam meine „ungläubige“ Frau gerade recht. Als ich ihn darauf ansprach, ob seine Frau sich mit meiner Frau aussprechen wollte, erklärte sie, wenn meine Frau nicht in die Versammlung kommen würde, wäre für sie der Kontakt erledigt.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja, ich war erst mit meiner Frau im Bürgerbüro. Sie bekam einen neuen Personalausweis. Die Angestellte dort, die meiner Frau den Ausweis aushändigte, war eine Glaubensschwester, die ich sehr gut kenne. Sie hat mich wie Luft behandelt, wie wenn ich unsichtbar gewesen wäre. Das tat mir irgendwie weh, doch dann tat sie mir leid, weil sie gegen ihren Willen so handeln muss. Ansonsten habe ich niemanden verloren der mir wichtig wäre. Ich kann damit leben. Ich sehe auch überhaupt keinen ZJ den ich kenne, sie sind wie vom Erdboden verschluckt, dadurch gibt es auch keine Berührungspunkte.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mir geht es heute relativ gut, weil ich erkannt habe, dass die Organisation nur an Geld und Macht interessiert ist, was ich früher nie geglaubt hätte. Meine Frau sagt immer: „ich glaube nicht, dass die an Gott glauben, so wie die handeln!“ 
Ängste hat meine Frau durch meinen jahrzehntelangen Glauben an die Zeugen Jehovas bekommen. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich kann sagen, dass ich durch die Zeugen Jehovas gelernt habe zu lernen, Vorträge zu halten, zu organisieren. Ich habe das Rauchen aufgeben, wofür ich sehr dankbar bin. Ich konnte für andere da sein, sie trösten, buchstäblich helfen. Es hat mich sehr befriedigt, Gutes wirken zu können. Wenn die „Leitende Körperschaft“ den Sinn Christi gelebt hätte und so demütig und offen andern gegenübergetreten wäre, hätte es für mich keinen Grund gegeben weg zu gehen. Ich vermute nun, dass es keine religiöse Organisation oder Gruppe gibt, die absolut christlich handelt. Geld und Macht sind mehr oder weniger die Antriebsfedern, deshalb muss ich in Zukunft mit Gott und seinem Sohn und meiner Familie und den anderen Menschen selber klarkommen. Das erste und zweite Gebot der Bibel, Gott und seinen Nächsten zu lieben, das möchte ich praktizieren. Vor allem muss ich lernen auch mich zu lieben, damit ich die Gebote Gottes befolgen kann.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Wenn euch der Friede in der Familie heilig ist, so löst die Verbindung zu den ZJ. Man erkennt das erst, wenn man dabei ist. Wenn alle in der Familie diesen Weg gehen wollen und für immer und ewig dabei bleiben, mag es vielleicht gut sein. Doch als ZJ, musst du bereit sein, dein eigenes Denken und Fühlen aufzugeben und akzeptieren, dass du jederzeit verraten werden kannst, wenn du etwas machst, was nicht dem Gesetz der Organisation entspricht. Du musst leidensfähig sein, wenn du eine eigene Meinung vertreten willst. Höhere Bildung ist nicht gerne gesehen, sondern die Bildung, die die ZJ für dich vorsehen. Wenn du ein Mann bist, kannst du theokratische Bildung anstreben, d.h., du wirst alle Zeit und Mittel für die Organisation aufbringen und später in Armut in der Rente sein. Bist du eine Frau, so darfst du deinen Mann unterstützen, ihm untertan sein und eure Kinder in aller Demut und in der Lehre der ZJ erziehen. Ich denke, die Bibel zu lesen und Gutes zu tun kann man auch ohne Zeugen Jehovas.

Meinen Ausstieg habe ich auf Video festgehalten.

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