ÜberLebensweg – Jolanda Heber aus Dahlewitz

Jolanda aus Dahlewitz
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Im Grunde hatte ich kaum eine andere Wahl. Meine Urgroßeltern mütterlicherseits brachten den Glauben in unsere Familie und so wurde er von Generation zu Generation weitergetragen. Als Kind lernte ich, dass es nicht nur der BESTE Lebensweg wäre, eine Zeugin Jehovas zu sein, sondern auch der einzig RICHTIGE. Also nahm ich mir alles sehr zu Herzen und ließ mich mit 14 Jahren taufen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Als Kind kam mir meine Religion nie sonderlich komisch vor. Es gehörte einfach dazu. Natürlich musste ich auf einiges verzichten und stattdessen sehr sehr viel aus der Bibel lernen. Aber ich machte es eigentlich immer gern. Als sich in meiner engsten Familie (nicht religiös bedingte) Schwierigkeiten einstellten – Scheidung meiner Eltern, neuer Stiefvater, ect. – war mir mein Glaube und die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ein Anker an dem ich Halt finden konnte. Ich war dankbar dafür und gab als Gegenleistung so gut ich konnte meinen vollen Beitrag.

Erst als ich älter wurde und tiefer in die Glaubensgemeinschaft integriert, nahm ich meinen Alltag oft als stressig wahr und fühlte mich ständig unter einem Leistungsdruck. Ich war Pionier und ich wusste, dass ich eine große Verantwortung trage – sowohl für meine Mitmenschen, die ich retten wollte, als auch für meine Glaubensfamilie, denen ich ein Vorbild sein sollte.

Obwohl ich nach Aussage meines Kalenders NIE Langeweile hatte, verspürte ich dennoch oft eine Leere, die ich nicht greifen konnte und das Gefühl der Wertlosigkeit. Wenn ich mein Ziel nicht erreicht hatte, zu nachlässig mit theokratischen Aufgaben war oder meine Persönlichkeit nicht dem entsprach, wie ich hätte sein sollen, fühlte ich mich klein, einsam und nie genug wie ich war. Ich habe darunter so gelitten, dass ich die Hoffnung auf ein Paradies, dass jedem treuen Zeuge in Aussicht steht, für mich selbst nie verdient sah.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Oh – das ist eine lange Geschichte, obwohl es am Ende recht schnell ging. Kleinere Zweifel und Unstimmigkeiten innerhalb der Glaubenslehren hatten sich über die Jahre schon angesammelt, aber sehr lange habe ich das alles unter dem Stichwort „Unvollkommenheit“ und „Jehova wird sich darum kümmern“ abgelegt. 

Erst als ich 2017 im Predigtdienst meine jetzige Partnerin kennen lernte, drehte sich alles auf den Kopf. Zunächst war sie meine Bibelschülerin, doch mit der Zeit wurde uns klar, dass uns mehr als das verband. Es war aber nicht nur die Liebe zu ihr, die mich meine Religion hinterfragen ließ. Aber sie war der Auslöser. Sie brachte mich dazu, meinen Glauben komplett auf eine Probe zu stellen – in jedem Bereich: Wahrheitsgehalt der Glaubenslehren, geschichtliche Entwicklung der Organisation und meine persönliche Gefühlswelt.

Alles zusammen brachte das, woran ich mein Leben lang geglaubt hatte, zum Einsturz und entlarvte meinen Freund im Himmel als nichts weiter als ein Produkt von Menschen.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich sage immer, ich war eine „Vollblut-Zeugin“ – zu 98% überzeugt, dass Jehovas Zeugen die Wahrheit lehren.

Echte Zweifel daran kamen mir, als ich mich näher mit den Bibelübersetzungen auseinandergesetzt habe und mit verschiedenen Glaubenslehren. Ich verglich Artikel aus der hauseigenen Literatur mit geschichtlichen Berichten über Daten, Personen, Übersetzungen, Entwicklungen. Es gab immer mehr Unstimmigkeiten und eine Frage führte zur nächsten. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film!

Aber mein Wunsch, der wahren Wahrheit auf den Grund zu gehen war mir wichtiger, als der Schmerz und die Enttäuschung, die meine Forschungsergebnisse auslösten. Also machte ich weiter.

5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Als ich mich entschied, keine Zeugin Jehovas mehr zu sein, war mir klar, dass ich alle meine sozialen Kontakte verlieren würde. Mein gesamter Freundeskreis, meine Familie – alles spielte sich innerhalb der Glaubensgemeinschaft ab. Ich wusste, ich würde bis auf sehr sehr wenige Menschen erstmal allein meinen Weg gehen müssen. Ich wusste allerdings nicht, wie es sich wirklich anfühlt, verlassen zu sein.

Ich war als Zeugin Jehovas immer mittendrin. Die meisten mochten mich und ich mochte die meisten. Über 200 Kontakte – davon ca. 30 Familienangehörige, auch meine Geschwister – verschwanden aus meinem Handy-Telefonbuch. Ich hatte innerhalb kürzester Zeit nur noch mich selbst, meine jetzige Partnerin, eine Großtante und die beruflichen Kontakte. Für den Rest meiner bisherigen Welt war ich gestorben und bis heute habe ich keinen Kontakt.

Ich versuche die Bindung zu meinen drei Geschwistern nicht komplett abreißen zu lassen und melde mich hin und wieder per Brief bei ihnen. Eine langfristige Reaktion erhalte ich nicht. Im Gegenteil. Ich werde als „Verräter“ angesehen. Ich solle nicht herum heulen, denn schließlich habe ich es mir ja selbst so ausgesucht und wusste ja, was passieren würde – so die letzte Aussage meines Bruders. Das verletzt… Stürzt mich manchmal wieder in ein Loch, wenn ich zu viel drüber nachdenke.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Was sind deine Gedanken dazu?

Die größte Angst eines Zeugen Jehovas besteht meiner Meinung nach darin, ihren Gott traurig zu machen und am Ende das ewige Leben nicht zu verdienen, aussortiert zu werden, in Harmagedon sterben zu müssen. Die leitende Führung (der treue Sklave) vermittelt ihnen in der hauseigenen Literatur, in Ansprachen und persönlichen Gesprächen, dass es Jehova besonders traurig macht, wenn sie gegen seine Regeln verstoßen. Eine dieser Regeln lautet, einem ausgeschlossenen Menschen – egal ob Freund oder Familie – nicht einmal einen Gruß entgegen zu bringen. Wer sich darüber hinweg setzt, würde sich nicht nur gegenüber den anderen Mitgliedern verantworten müssen, sondern auch ein schweres, schlechtes Gewissen gegenüber Gott mit sich herum tragen und unterbewusst von ständiger Todesangst begleitet sein. Ich bin mir darüber bewusst und sicher, dass auch der Rest meiner Zeugen-Familie, der mich ächtet und sich damit diesen Regeln beugt, darunter leidet.

Wenn der Glaube an Jehova, oder zumindest der Glaube an die Lehren der Zeugen Jehovas, entfällt – der Schleier von den Augen sich löst – haben schon viele Freundschaften und Familien wieder zueinander gefunden. Plötzlich war das Thema „Ächtung“ kein Problem mehr. Plötzlich gab es keine Gründe mehr, warum es diese Mauer geben sollte. Ich selbst habe wieder Kontakte zu Menschen, die ich selbst vor Jahren geächtet habe oder aber, die mich in der Vergangenheit geächtet haben.

Ächtung ist keine persönliche Überzeugung. Auch keine Verletzung der zwischenmenschlichen Beziehung durch eine vorgefallene „Sünde“. Ächtung ist lediglich ein Mittel der Religionsgemeinschaft/Sekte, um ihre Mitglieder durch Angst von der realen Außenwelt abzutrennen und für ihre eigenen Ziele zu missbrauchen.“

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Im Vergleich zu den ersten 6-12 Monaten nach meinem Ausstieg geht es mir wieder sehr gut. Ich habe mein Lachen einigermaßen wiedergefunden und kann mit etwas Abstand auf das Geschehene blicken.

Ich muss immer noch lernen, zu mir selbst zu stehen, anderen Menschen zu vertrauen, Bindungen zuzulassen, stolz auf mich zu sein. Das sind meine größten Baustellen.

Angst vor Geistern, Satan oder Armageddon habe ich glücklicherweise nicht mehr. Das war ziemlich schnell vorbei. Angst zu versagen habe ich dagegen schon immer wieder noch – dieses „immer-perfekt-sein-müssen“ begleitet mich immer noch, obwohl ich bewusst versuche dagegen zu steuern und alles absichtlich unperfekt zu machen. Auch die Angst, wieder Menschen zu verlieren, die ich in mein Herz lasse, begleitet mich.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Meine Vergangenheit gehört zu mir. Durch sie bin ich heute die, die ich bin und ich denke, ich bin okay, wie ich bin. Natürlich: Wer wünscht sich nicht eine heile Familie ohne religiöse Zwänge und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit? Aber leider ist es nur sehr wenigen Menschen vergönnt, das zu erleben. Auch außerhalb von Zeugen Jehovas gibt es Menschen mit schrecklichen Vergangenheiten.

Ich denke, es ist eine Frage, was ich daraus mache. Ich weiß durch meine Zeit als Zeugin Jehovas z.B. jetzt, wie ich nicht mehr sein möchte und schätze vieles anders oder vielleicht sogar mehr, was für andere selbstverständlich ist. Ich weiß, dass ich durch mein Verhalten als Zeugin selbst auch viele meiner Freunde verletzt habe, als sie gegangen sind und ich sie ächtete und ich möchte nie wieder dafür verantwortlich sein, dass jemand unter meinem bewussten Verhalten leidet!

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Es gibt ein Sprichwort, das meine Oma immer sagte: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt.“. Sieh also genau hin. Wenn du den kleinsten Zweifel hast, dann geh ihm nach – und hör nicht auf, bis du eine befriedigende Antwort für dich gefunden hast. Wichtig ist dabei alle Seiten des scheinbaren „Goldstücks“ anzuschauen und es mit allen Mitteln zu prüfen. Nur so kannst du herausfinden, ob du ein echtes Stück Gold gefunden hast oder ob es in Wirklichkeit wertlos ist. Die Entscheidung was für dich persönlich die Wahrheit ist, kann dir niemand abnehmen. Die Verantwortung trägst du allein. Vielleicht wirst du Freunde oder Familie enttäuschen – aber das ist okay. Das wichtigste ist, sich niemals selbst zu enttäuschen! Denn mit dir musst du die meiste Zeit deines Lebens verbringen.

Medien

Jolandas Autobiografie „Jehovas ungehorsame Tochter – wie mir die Liebe Freiheit schenkte“ findest du hier:
tredition Shop

Das Hörbuch zur Autobiografie kannst du hier erhalten: 
XINXII Self Publishing

Jolanda im Gespräch mit Natalie Barth auf YouTube: 
Teil 1
Teil 2
Gespräch mit Natalie Barth zur Biographie von Jolanda

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