ÜberLebensweg – J.P.

J.P.
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Meine Eltern sind beide Zeugen Jehovas und ich wurde dort hineingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Sehr strukturiert ist der Alltag, alle sind immer sehr beschäftigt, fast schon überfordert mit dem, was die Religion einem abverlangt.
Oft herrscht eine ganz komische Stimmung, die ich außerhalb der Zeugen nie erlebt habe. Es ist so ein Unwohlsein. Sie lachen zwar oft, aber dahinter steckt eine tiefe Traurigkeit und die habe ich permanent gespürt.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Mir hat es geholfen, dass ich eine Ausbildung angefangen habe und dort auf verschiedene Menschen stieß. Die Damen dort äußerten sich eher negativ. Wie zum Beispiel: „Ach das ist ja schlimm!“ oder “ Oh Gott, das wäre ja nichts für mich!“, als ich ein bisschen von dem Leben erzählte, welches man bei den Zeugen hat. Da war ich aufrichtig vor den Kopf gestoßen. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Meistens bekommt man ja höflichere Komentare zu hören.
Gleichzeitig fühlte ich mich einfach immer unwohl und zunehmend unwohler innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen.

Als ausschlaggebendes Ereignis würde ich eine Folge von mehreren Dingen nennen:
Erstmal drängte mich ein getaufter Bruder, der einen vorzüglichen Ruf in der Gemeinschaft hatte, zum Sex. Wir waren nicht zusammen oder ähnliches. Ich lehnte dies ab, war aber wirklich verstört. Das war nicht das erste oder letzte Mal, dass sich Männer bei den Zeugen mir gegenüber sexuell übergriffig verhalten haben.

Meine Uroma war auch immer eine strikte Zeugin Jehovas gewesen. Als sie jedoch zu meiner Oma zog, wollte sie zu Silvester mit anstoßen und war betrübt, dass sie keine Geschenke für die Kinder zu Weihnachten hatte. Das erschütterte mich schon sehr, da sie innerhalb der Familie stets als vorbildliche Zeugin galt.

Ich hatte später eine beste Freundin bei den Zeugen, die mir ein Vorbild war. Sie war für mich wie eine große Schwester, die ich nie hatte. Sie studierte mit mir die Bibel.
Sie war auch getauft. Sie verliebte sich Hals über Kopf in einen Weltlichen und stieg bei den Zeugen aus. Das passierte von einer Nacht auf die andere. Es kam ohne Vorwarnung und sie war weg. Weg aus meinem Leben. Meine beste Freundin. Meine Schwester. Einfach gegangen ohne ein Wort.
Diese verschiedenen Ereignisse passierten alle recht schnell hintereinander und ließen in mir die Frage entstehen, ob ich denn die Einzige bin, die so bescheuert ist, sich an alles zu halten was die Zeugen sagen.

Zu meiner Freundin möchte ich anmerken, dass sie es leider nicht geschafft hat. Nach drei Jahren des Ausstiegs kam sie wieder zurück. Sie kam mit der normalen Welt nicht zurecht. Es war ihr zu viel. Wir wissen alle, wie das Leben danach ist und es tut mir unendlich leid für sie, dass sie wieder zurück in „dieses Gefängnis“ gegangen ist.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war sehr fest im Glauben. Ich glaubte natürlich an alles, was die Zeugen predigen. Wie das so ist: die Eltern erklären dir die Welt und daran glaubt man dann. Keiner stellt doch in Frage, ob ein Baum ein Baum, oder ein Tisch ein Tisch ist – warum also sollte ich den Glauben, den meine Eltern als Tatsache ansahen denn anzweifeln? Ich habe immer geglaubt. Auch als ich ausgestiegen bin. Ich war furchtbar unglücklich bei den Zeugen. Deswegen musste ich gehen.
Ich denke, das ist ein Punkt, der bei den Aussteigern oft übersehen wird und das ist folgender Gedanke:
Man denkt sich: „Vielleicht habe ich ja noch 1 – 2 gute Jahre, bevor Harmagedon kommt und ich gerichtet werde.“ Also anders gesagt, vielleicht habe ich 1 – 2 gute Jahre, bevor ich sterben muss. Das heißt, jeder Aussteiger entscheidet sich freiwillig lieber für den Tod nach kurzer Zeit, als weiter bei den Zeugen zu leben. Diese zwei Jahre sind wertvoller als ein ganzes Leben bei den Zeugen. Ich denke, das erklärt doch einfach den unendlichen Leidensdruck, den man dort verspürt.

Ich hatte wenig Freunde und wollte unbedingt einen festen Freund.
Mit Allem war ich allein. Den einzigen Rat, den man von den Eltern bekam war, sich NOCH MEHR in der Theokratie zu engagieren, dann wird Gott das schon richten.
Also versuchte ich es wirklich aufrichtig. Ich wurde zum Streber und machte noch mehr und noch mehr und noch mehr…. um zu erkennen, dass es alles nichts brachte. Kein Gebet wurde erhört – nie. Keine Freunde kamen – kein Freund.

Ich war sehr unglücklich und wollte dieses aufgezwungene Leben nicht mehr führen.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ich wusste schon sehr früh, dass ich dieses Leben eigentlich nicht führen will und habe mich zum Glück auch nie taufen lassen. Natürlich wurde es von allen vorausgesetzt und mein Ausstieg war ein Schock für alle, besonders für meine Eltern. Denen brach es das Herz und sie weinten bitterlich. Da ich nicht getauft bin, bin ich nicht von Ächtung betroffen, ich weiß allerdings nicht wie es wäre, wenn meine Eltern erfahren, dass ich mich öffentlich gegen diese Religion ausspreche, ob sie dann noch Kontakt zu mir hätten, daher muss der Überlebensweg auch anonym sein.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich hatte lange mit Depressionen zu kämpfen und jeder Tag ist eine Herausforderung. Ich habe extrem große Beziehungsangst, Verlustangst und Angst vor emotionaler Nähe. Es fällt mir schwer, mich auf Menschen zu verlassen. Auch ein geringes Selbstwertgefühl ist da und das Gefühl, nicht liebenswert zu sein.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Dass ich neidisch bin auf jedes Kind, welches zu seiner Persönlichkeit finden durfte und darf. Ich bin neidisch auf jedes Kind, das einfach geliebt wird ohne etwas zu leisten oder das richtige Verhalten zeigen zu müssen.
Ich fühle mich betrogen, um ein sorgenfreies Leben, um eine sorgenfreie Kindheit und um eine sorgenfreie Zukunft. Ich fühle mich beschnitten in meiner Persönlichkeitsentwicklung und meiner Identität und meinem Wert. Die Zeugen haben mich zu keinem stabilen Menschen heranwachsen lassen, sondern zu einem Menschen, der aus Scherben besteht und der jeden Tag versucht, sie bestmöglich zusammenzuhalten, so dass das ganze Konstrukt nicht in sich zusammenkracht.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Wenn sie sich für diesen Weg entscheiden, würde ich ihnen empfehlen keine Kinder in die Welt zu setzen.

Diese religiöse Gruppe schadet dem Menschen an sich. Bei Erwachsenen ist der Schaden weniger schlimm, als bei einem Heranwachsenden. Generell werden die Menschen in dieser Gruppe zu keinen Glücklicheren. Vielleicht zu solchen, die dies vorheucheln. Aber tief im Inneren ist ganz viel Schmerz, Angst und Depression. Sie sind alle nett und kümmern sich – keine Frage, aber richtig glücklich ist dort keiner. Ob sie das nun vor sich selbst zugeben können oder nicht, das ist die einzige Frage und meistens ist die Antwort, dass sie sehr unbewusst sind in dem was sie tun und fühlen – sie fühlen sich eher dazu verpflichtet diesen Weg zu gehen, damit sie überleben. Aber statt dem großen Gericht, was Gott über die Welt bringt, haben sie ihr Gefängnis ihre eigene Hölle schon erschaffen in der sie leben, sie sehen es nur nicht.