ÜberLebensweg – Ilona

Ilona
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich war 27 Jahre alt, alleinerziehende Mutter einer 2-jährigen Tochter, sehr depressiv und verlassen. Außerdem war ich ein Mensch auf einer, so würde ich sagen, spirituellen Suche. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit meiner Tochter auf Gran Canaria im Urlaub und lernte dort eine Familie – Zeugen Jehovas – kennen. Ich war tief berührt von ihrem scheinbar so harmonischen Familienleben und mit welcher Überzeugung sie über ihren Glauben und ihre Hoffnung sprachen. Das war so das, wonach ich mich so sehr sehnte.
Zu Hause bekam ich dann sehr schnell Kontakt zu Zeugen Jehovas über den Haus zu Haus Dienst.
Ich begann ebenfalls mit dem Haus zu Haus Dienst und ließ mich schon ein Jahr später taufen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Am Anfang war alles so schön. Ich fühlte mich geliebt. Ein Ehepaar übernahm sogar die Betreuung meiner 2-jährigen Tochter, während ich arbeitete. 1995 heiratete ich dann einen Pionier aus der Versammlung und dachte, mein Leben wäre perfekt.
Meine Eltern hatten sich von mir abgewandt, wollten meinen neuen Glauben nicht akzeptieren.

Zu kämpfen hatte ich mit dem Predigtdienst, auch wenn man mir das nicht so anmerkte, da ich ein Mensch bin, der sehr gut auf fremde Menschen zugehen kann. Ich fand es oft anstrengend und dachte oft daran, welche Arbeit ich jetzt zu Hause tun könnte.

Auch die Putzaktionen am Königreichssaal oder Renovierungsarbeiten, alles so oben drauf. Ich war immer berufstätig, mein Mann trug Zeitungen aus und war im Pionierdienst, bis er krank wurde. So litt ich immer mehr unter Dauermigräne.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Es gab keine ausschlaggebenden Ereignisse. Es war die Summe vieler Situationen. Zum Einem spürte ich eine zunehmende innere Leere. Ich habe die innere Wärme vermisst, so eine wirkliche spirituelle Erfüllung.
Es war so: Du bist ein guter Zeuge, wenn Du alles tust, wie es die Organisation sagt. Es ging gar nicht um eine Bindung zu Gott. Regeln über Regeln. Ich fand es irgendwie sehr heuchlerisch, wenn auf der Bühne die Pharisäer zitiert wurden, die ihren Brüdern so viel aufbürdeten, sie selber es aber nicht tragen wollten. Außerdem hatte ich zunehmend Probleme in meiner Ehe. Mein Mann war Ältester, sehr eingespannt und liebte den Predigtdienst. Unterstützung im Haushalt? Fehlanzeige! Zu meiner Tochter entwickelte er leider auch kein herzliches Verhältnis, so stand ich immer zwischen den Beiden und versuchte, die Harmonie aufrecht zu erhalten. Ich fühlte mich zunehmend zerrieben zwischen all den Anforderungen, die an mich als Ältestenfrau gestellt wurden, und das, was mein Herz eigentlich wollte.

Letztendlich ausgestiegen bin Dezember 2011.

4. Wie stark warst Du im Glauben und in er Gemeinschaft verankert? Wann und warum hast Du begonnen zu zweifeln und Deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war als berufstätige Ehefrau schon in einer „Sonderrolle“ in der Versammlung. Die meisten Frauen waren Hausfrau oder arbeiteten nur wenige Stunden. Ich war zwar aktiv in der Versammlung, ging in den Predigtdienst und hielt Aufgaben, aber war immer ein bisschen außen vor, zumindest habe ich es so empfunden. Der Glaube selbst an das Paradies verblasste immer mehr, ich funktionierte nur noch. Richtige Zweifel und Ausstiegsgedanken kamen mir so 2009. Mit meinem Ehemann konnte ich nicht darüber sprechen, der war ein 150%iger Zeuge. Ich hatte auch zunehmend Probleme mit der Art des “Studierens“. Dieses ständige Wiederkäuen – da kam so langsam der Gedanke der Gehirnwäsche. Ich begann mich zu fragen: Wozu das alles?
Ich beschloss, auszusteigen, meine Ehe zu beenden. Ich begann mir langsam einen Freundeskreis draußen aufzubauen, weil ich ja eigentlich allen „weltlichen“ Kontakt verloren hatte. Und ich hatte schon Angst davor, allein da zu stehen.

5.Bist von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja, mein Cousin mit Ehefrau, zu denen ich ein freundschaftliches Verhältnis hatte und meine Tante haben den Kontakt abgebrochen, ebenso sämtliche Menschen und Freunde aus der Versammlung. Sie grüßen auch nicht mehr, wenn ich Ihnen begegne.

Ich muss sagen, dadurch, dass ich ein sehr offener Mensch bin und gut Kontakt herstellen kann, ist mir der Ausstieg nicht so schwergefallen. Mittlerweile bin ich auch glücklich verheiratet und engagiere mich im Tierschutz. Klar, so geächtet zu werden tut schon weh. Aber ich denke dann immer, sie wissen es einfach nicht besser und wollen vielleicht „noch“ nicht richtig hinsehen.

b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?

Natürlich ist das von der Organisation so angeordnet. Keinen Umgang zu pflegen mit jemanden der ausgeschlossen ist, wurde immer wieder betont. Umso mehr nicht mit jemanden, der sich öffentlich gegen die Organisation stellt, in ihrem Sinne „abtrünnig“ ist. Ich glaube, dass einige dies auch tun, um keinen „Ärger“ zu bekommen, einige glauben perfiderweise, dass sie Gottes Willen tun.
Und aus eigener Erfahrung weiß ich: als meine Tochter die Organisation verließ, wurde ich gefragt – weil wir Kontakt hatten (sie war zu der Zeit recht krank) – wer denn anruft: sie oder wir? Der Kreisaufseher meinte damals, dass der Kontakt auf keinen Fall von uns ausgehen dürfe.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mir geht es sehr gut. Ich habe sozusagen meine „spirituelle Heimat“ gefunden. Ohne irgendeiner Religion anzugehören. Ich bin Meditationslehrerin und Achtsamkeitslehrerin geworden und das erfüllt mich sehr. Und ich liebe meine Selbstbestimmung und bedingungslos geliebt zu werden, nicht nur geliebt werden, weil ich bestimmte Regeln erfülle. Und ich liebe mein Leben mit den Katzen.

Am Anfang, ich würde sagen, es waren so die ersten 2 Jahre, da waren auch gewisse Ängste da. So zum Beispiel, als ich meine erste Buddha Figur ins Wohnzimmer stellte. War einfach ein komisches Gefühl. Heute denke ich darüber gar nicht mehr nach. Außerdem träume ich manchmal noch, ich müsste zur Versammlung oder zum Kongress gehen, obwohl ich gar nicht will.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich bin froh, den Weg aus der Sekte gefunden zu haben, auch die Stärke zu besitzen, alles hinter mir zu lassen. Außerdem habe ich Frieden damit geschlossen, solch eine Fehlentscheidung in meinem Leben getroffen zu haben. Die Zeugen waren genau da in meinem Leben, wo ich wohl eher professionelle, therapeutische Hilfe gebraucht hätte.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Habt keine Angst vor dem Leben da draußen. Ihr seid es wert, ein selbstbestimmtes Leben zu führen!