ÜberLebensweg – Debbie B. aus Köln

Debbie aus Köln
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich wurde in diese Glaubensgemeinschaft hineingeboren. Meine Mutter war bei meiner Geburt bereits Zeugin Jehovas, mein Vater bereits ausgeschlossen, weil er sich einer Sünde schuldig gemacht hatte und nicht bereute. Er wurde auch Zeit seines Lebens nicht mehr aufgenommen. Das war für mich zuhause ein Spagat, weil mein Vater nicht mit zur Versammlung gegangen ist. „Versammlung“ nennen die Zeugen Jehovas ihre Gemeinde.
Mit 16 Jahren habe ich mich freiwillig taufen lassen. Bei Zeugen Jehovas war es damals so, dass man erst als Erwachsener getauft wurde. Inzwischen werden auch schon Kinder um die 10 Jahre getauft. Was ich persönlich nicht nachvollziehen kann, weil man noch gar nicht reif genug für eine solche Entscheidung ist. Selbst ich mit 16 Jahren hatte nicht die Reife, all das wirklich abzusehen. Aber das ist der normale Werdegang bei Zeugen Jehovas. Gerade wenn man hineingeboren ist, wird einfach erwartet, dass man sich nach einer gewissen Zeit taufen lässt.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Zeugen Jehovas predigen viel von Haus zu Haus und das habe ich auch schon sehr jung gemacht. Wenn andere im Alter von 16 Jahren Ferien hatten, einen Ferienjob machten, weggefahren sind oder sich mit Freunden getroffen haben, bin ich von Haus zu Haus gegangen. Das nennt man den „Pionierdienst“. Dafür musste man damals 60 Stunden im Monat einsetzen, um mit anderen Menschen an deren Haustüre oder öffentlich auf der Straße über den Glauben zu sprechen. Ich dachte, das sei richtig und ich wollte später auch Vollzeitpionier werden. Oder, wenn ich den richtigen Partner finden würde, sogar Missionarin werden und irgendwo im Ausland dienen. Das war meine Traumvorstellung und darauf habe ich hingearbeitet.

Ich habe sehr jung geheiratet. Mein Partner kam auch aus meiner Gemeinde. Viele Zeugen Jehovas heiraten sehr früh. Das ist normal, man lernt sich ja sonst nicht kennen. Man darf nicht alleine zusammen weggehen, kann sich immer nur in der Gruppe kennenlernen. Deshalb treffen viele Paare diese Entscheidung.
Mir war schon sehr früh klar, dass ich nur jemanden heiraten möchte, der auch in dieser Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ist, weil das einfacher ist. Mit einer Person, die all diese religiösen Dinge, wie ich sie gelernt habe, nicht praktiziert, wäre es sehr schwierig geworden. Außerdem ist es auch nicht gerne gesehen oder erlaubt, dass man einen Nicht-Zeugen Jehovas heiratet. Es wird davor gewarnt. In der Bibel wird gesagt, man sollte „Im Herrn“ heiraten und das verstehen die Zeugen Jehovas so, dass der Partner auch ein getaufter, gläubiger Zeuge sein muss. Daran habe ich mich gehalten, weil ich dachte, das ist das Beste. Ich wollte in meiner Ehe nicht die Probleme haben, die meine Eltern hatten.

Eigentlich wollte ich etwas später heiraten, denn ich hatte noch andere Dinge im Kopf. Ich wollte in den Pionierdienst gehen und auch eine Ausbildung machen, aber das wurde mir leider verwehrt. Eine Hochschulbildung ist bei den Zeugen Jehovas nicht gerne gesehen. Ich konnte froh sein, dass man mir zugestand, eine Ausbildung zu machen. 
Da Zeugen Jehovas nicht einfach so zusammenziehen können, haben wir uns entschlossen zu heiraten. Letztendlich war ich in einer Notsituation und wäre sonst fast auf der Straße gelandet.
Leider habe ich sehr schnell nach der Heirat gemerkt, dass er nicht der richtige Partner für mich ist. Es sind unschöne Dinge passiert. Aber man kann sich bei den Zeugen Jehovas nicht einfach so wieder trennen. Wenn man einmal verheiratet ist, dann bedeutet das ein Leben lang. Der einzige Trennungs- oder Scheidungsgrund – neben dem Tod des Partners – ist Ehebruch. Das bedeutet, dass ein Partner „Hurerei“ begeht, also fremdgeht. Oder sich in irgendeiner Weise sexuell anderweitig orientiert. Das lag bei mir nicht vor. Deshalb erlaubte man mir nicht die Trennung von meinem Mann. Ich war damals noch sehr jung und unerfahren und habe das alles geglaubt und gedacht, das wird schon besser werden. Man hat mich auch vertröstet.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Ich bin mit meiner Tochter auf eine Demonstration gegangen. Damals gab es nach dem Tod von Mr. Floyd die ganzen Aktionen mit „Black Lives Matter!“ Daran habe ich mich beteiligt. 
Meine Tochter wollte zu dieser Demo gehen und weil ich nicht wollte, dass meine Tochter alleine geht, habe ich sie begleitet. Aber ich wollte auch selber zur Demo, weil ich dachte, das ist eine gute Sache. Für mich war das auch nichts Politisches, sondern eine christliche Verpflichtung, weil ich der Meinung bin, vor Gott sind alle Menschen gleich. So sollte es zumindest sein. Diese Demo zielte darauf ab, auf das schwere Schicksal der dunkelhäutigen Bevölkerung aufmerksam zu machen. Aber auch all jene, die mit einem anderen Hintergrund hier in Deutschland sind. Menschen, die immer noch diskriminiert werden. Es ist doch logisch, dass man das als Christ unterstützen kann. Dieses rassistische Denken gehört in kein christliches Gehirn. Für mich war klar, dass Zeugen Jehovas das nicht machen. Aber ich dachte, da steht ja jetzt keine Partei oder sowas dahinter. Und ich konnte nicht schweigen. Wenn ich schweige, ist es so, als wenn ich der negativen Seite zustimme. Und ich wollte zeigen, dass ich das unterstütze. 
Wir hatten nicht mal Plakate, wir gingen einfach nur so. Ich habe das dann bei WhatsApp in meinen Status eingestellt, dass ich da war. Und da habe ich einen großen Fehler begangen. Ich habe Ärger bekommen. Die Ältesten haben mich angerufen und gesagt, ich muss das sofort aus meinem Status löschen. Ich würde die ganze Gemeinde aufwiegeln und das, was ich gemacht habe, sei kein Kavaliersdelikt, das sei eine schwere Sünde, weil ich mich politisch engagiere. Da ich im ersten Moment dachte, ich möchte den anderen ja keinen Ärger machen, habe ich das tatsächlich aus meinem WhatsApp-Status rausgenommen. Worüber ich mich im Nachhinein noch sehr, sehr ärgere. Ich dachte, das geht die eigentlich gar nix an, das ist mein Leben und die können mir nicht vorschreiben, dass ich das aus meinem Status rausnehmen soll. Das ist doch eine ganz persönliche Sache. Das fand ich sehr frech und übergriffig. Aber ich habe es gemacht. Heute würde mir das nicht mehr passieren.

Die Ältesten wollten dann mit mir ein Gespräch führen, wie das bei Zeugen Jehovas so üblich ist. Es kommen dann zwei Älteste und man selber ist alleine. Ich habe diese Art von Gesprächen schon so oft geführt, was meine Ehe und Trennung von meinem Mann angeht und andere Dinge wie Kindererziehung usw., dass ich das nicht mehr wollte. Ich wusste schon genau, was da wieder gesagt wird. Ich hatte keine Lust, mich zu rechtfertigen und habe deshalb das Gespräch abgelehnt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich gemerkt, dass sich die Menschen aus meiner Gemeinde mir gegenüber veränderten. Zuvor haben sie sich immer sehr um mich bemüht, gefragt wie es mir geht und dann war auf einmal Schluss. Sofort wurde weitergetratscht, dass ich jetzt schlechter Umgang bin, dass ich was Schlimmes gemacht habe. Ich gehörte dann noch weniger dazu, weil für mich klar wurde, dass ich das nicht mehr will und da weggehen muss. 
Was soll ich da noch sagen? Das war für mich eine so wichtige Sache, gerade als Christin Stellung zu beziehen. Das nicht zu tun, kann ich nicht verstehen. Danach habe ich verschiedene Sachen gepostet, auch zu Umweltthemen. Sachen von Greenpeace und von WWF, weil mir diese Dinge wichtig sind.
Ich war sehr lange bei den Zeugen Jehovas…

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war sehr gläubig. Ich hatte eine ganz starke Beziehung zu Gott. So stark, dass ich Jehova wie eine Person gesehen habe. Wie einen Freund oder sogar Ersatzvater. Ich habe alles mit ihm beredet, alles ins Gebet gelegt. Wenn andere Leute Tagebuch geführt haben, habe ich meinen Tag bei Gott abgegeben. Es war Realität für mich, dass da jemand ist, der an mir interessiert ist, mir zuhört. Und nur aus diesem Grund habe ich meine Kinder so erzogen und bin so lange bei meinem Mann geblieben. Aus reinem Glauben, sonst hätte ich das nicht gemacht.
Es war sehr schwer für mich, als ich das alles irgendwann nicht mehr glauben konnte und es hat mir gefehlt. An all das, wofür ich mich hingegeben und taufen habe lassen, habe ich geglaubt. Ich habe es nicht angezweifelt. Für mich war klar, das ist die einzig wahre Religion, der einzig wahre Weg und ich muss alles dafür tun, dass ich Gott gefalle. 
Es gab natürlich Dinge, die mir schon aufgefallen sind, die ich nicht verstanden habe, aber bei ZJ wird dann immer gesagt: „Viele Dinge können wir heutzutage eben noch nicht verstehen. Das Licht ist noch nicht hell genug!“ Also Gott wird irgendwann schon dafür sorgen, dass wir das richtig verstehen, bzw. die kommt auch die Aussage, wir seien alle unvollkommen. Damit wurde auch einiges überdeckt. Ich habe mich sehr lange von diesen Aussagen trösten lassen und habe meine Gedanken unterdrückt. Das hat man sich immer als Entschuldigung genommen für die Fragen oder Ungereimtheiten, die so aufgekommen sind und die man damit schnell wieder unterdrückt hat. Schon in sehr jungen Jahren habe ich bemerkt, dass hier irgendwelche Dinge ungerecht und nicht in Ordnung sind. Ich habe manches nicht verstanden. Schon als Kind habe ich sehr viele Dinge hinterfragt.
Ganz schlimm wurden meine Zweifel als meine Tochter mit 12 Jahren angefangen hat, kritische Fragen zu stellen, die ich teilweise nicht wirklich ausreichend beantworten konnte, z.B. warum wir nicht Geburtstage feiern. Das ging meiner Tochter einfach nicht in den Kopf. Irgendwann hatte ich keine Antworten mehr und da kamen wieder diese Gedanken bei mir hoch. Oder sie hat mir ganz klipp und klar gesagt: „Mama, mit der Blutfrage: Würdest du mich also auch sterben lassen?“ Da dachte ich mir, das kann ich nicht. Ich kann mein Kind nicht sterben lassen. Und da wurde mir bewusst, wie krass das ist, dass Gott das von mir verlangt. Da habe ich alles nochmal massiv hinterfragt, nachdem ich die Dinge mit den Augen meiner Tochter gesehen habe. Ich bin ihr bis heute so dankbar, dass sie so offen mit mir geredet, und immer wieder das Gespräch mit mir gesucht hat. 
Es hat dann aber noch ein paar Jahre gedauert, bis ich mich getraut habe, mir das selbst einzugestehen und zu mir und meinen Zweifeln zu stehen. Dann fingen meine Nachforschung zu manchen Themen an. Ich habe zwar weiterhin nichts von Ausgeschlossenen gelesen, weil man das als Zeuge Jehovas nicht darf. Aber ich habe versucht, das wissenschaftlich anzugehen, bzw. was Wissenschaftler dazu sagen. Da habe ich Unterschiede bemerkt und es wurden immer mehr. Dann ging es ziemlich schnell, dass ich gemerkt habe, hier stimmt was nicht. Es wurde mir immer klarer. Und dann habe ich auch Dinge von Ausgeschlossenen durchgelesen und das Puzzle wurde komplett. Als mein Bild komplett war, wusste ich, das ist einfach nur eine Sekte. Da stimmt alles gar nicht. Dann war ich froh, Gewissheit zu haben und klar zu sagen, jetzt mache ich einen Strich drunter. Ich konnte nicht mehr weitermachen.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Da meine ganzen Geschwister, außer meiner jüngsten Schwester, und meine Mutter noch dabei sind, bin ich natürlich auch von Ächtung betroffen. Sie haben sich alle komplett von mir abgewandt und seitdem ich offiziell ausgeschlossen bin, hat keiner mehr Kontakt mit mir. Ich wurde auch blockiert. In der Woche, wo das in der Versammlung bekannt gegeben wurde bzw. ein paar Tage danach, konnte ich auf WhatsApp dabei zusehen, wie sich die Leute von mir abgewandt haben. Seitdem bin ich relativ alleine. 
Damit muss ich jetzt leben, das wusste ich vorher, aber das ist natürlich schwer. Ich habe noch 5 Geschwister und es ist schon sehr schmerzhaft, wenn man überhaupt nichts mehr hört und sieht von ihnen, mit Ausnahme einer Schwester. Die haben ja auch Familien. Man wird wie für tot erklärt. 
Aber man kennt das ja. Ich selber habe das nie so extrem gemacht. Ich habe immer noch Leute gegrüßt, aber wenn man plötzlich auf der anderen Seite steht, merkt man erst, wie unmenschlich das ist.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Diese Religion hat mich krank gemacht. Und das sage ich ganz bewusst, weil ich auch – schon während ich noch da drin war – in Therapie musste. Ich hatte erst mit Panikattacken zu tun, und dann später mit Depressionen und Schmerzen am ganzen Körper. Ich habe Fibromyalgie bekommen. Im letzten Jahr vor der endgültigen Trennung meines Mannes und meines Entschlusses, mich auch von dieser Religion zu trennen, lag ich fast ein Jahr im Bett. Ich war krankgeschrieben und ich konnte mich kaum noch bewegen vor Schmerzen und da habe ich auch verstanden, dass das alles zusammenhängt. Ich habe das wirklich körperlich gemerkt, denn an den Tagen, als Versammlung war, ging es mir besonders schlecht. Ich konnte regelrecht die Uhr danach stellen. Entweder ich hatte Migräne ohne Ende oder solche Schmerzen in den Gelenken, dass ich mich gar nicht bewegen konnte. Mein Körper hat mir gesagt, ‚Ich will da nicht mehr hin, ich möchte das nicht mehr, ich will diese Leute nicht mehr sehen‘. In mir hat sich alles gesträubt und ich bin mir sicher, wenn ich da nichts gemacht hätte, dann wäre das mein Ende gewesen, weil ich psychisch nicht mehr konnte. Immer dieser Druck und dass ich nicht so leben konnte, wie ich eigentlich bin.

Es ist ein langer Weg und als ich frisch raus war, musste ich mir zuerst Therapiestunden suchen, weil das für mich eine Akutsituation war. Jetzt hatte ich erst mal bisschen Ruhe. Aber ich merke, dass sich im Alltag immer Sachen auftun, dass die alten Geschichten so hochkommen. Vieles läuft noch unbewusst ab. Verhaltensmerkmale, die man sich angeeignet hat und ablegen möchte. Trotzdem geht es mir heute im Allgemeinen ganz gut.

Seit dem Moment, wo mir klar war, das stimmt alles nicht, ist auch Harmagedon kein Thema mehr für mich. Was mich manchmal triggert, sind Sachen wie Nahtoderfahrung, Engel, Astrologie. Alles Dinge, die wir uns vorher nicht angucken oder anhören durften. Oder Chakren, Aura, Meditation. Das interessiert mich alles, schließlich muss ich mir auch ein neues Weltbild zusammenbauen. Dieses Wissen fehlt mir, weil es immer spiritistisch war.
Ich bin sonst sehr im Reinen mit mir und weiß, das ist der richtige Weg, dass ich das jetzt so gemacht hab. Das tut mir gut.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Wenn ich nochmal vor der Entscheidung stehen würde, würde ich mich sicherlich wieder dagegen entscheiden. Vor Allem mit dem Wissen, das ich jetzt habe. 
Ich bin darüber hinweg, aber es hat mich sehr viel Kraft gekostet und an manchen Dingen arbeite ich noch immer. Das wird auch noch seine Zeit brauchen. Meine Persönlichkeit durfte ich nicht frei entfalten, das hat mich krank, ja psychisch sehr kaputt gemacht.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Deine Zweifel sind auf jeden Fall berechtigt! Für mich ist es ganz klar eine Sekte und keine christliche Religionsorganisation in herkömmlichem Sinne. Das unterscheide ich ganz klar!

Ich kann jedem nur davon abraten, sich den Zeugen Jehovas anzuschließen!

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