
Anja
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Ich wurde reingeboren. Meine Mutter ist kurz vor meiner Geburt bei den Zeugen Jehovas reingefischt worden.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Meine Kindheit und Jugendzeit war sehr belastet durch die Gemeinschaft. Ich wuchs mit sehr großen Ängsten vor Menschen (Weltmenschen), Teufel und Dämonen auf. Es wurde mir stets und ständig vermittelt, wenn ich nicht den Ansprüchen genüge, werde ich in Harmagedon umkommen. Die Angst vor dem Tod wurde sehr geschürt. Zweimal erlebte ich Todesangst, weil ich operiert werden musste. Meine Mutter wies den Arzt an, mir im Notfall eine lebensrettende Bluttransfusion zu verweigern. Es waren keine gefährlichen Operationen, dennoch hatte ich Todesangst. So etwas prägt und hinterlässt Spuren in einer Kinderseele.
Meine Mutter lebte die Regeln und das Leben einer Zeugin Jehovas so wie es ihr gerade passte. Daher kam es bei ihr zweimal zu einem Gemeinschaftsentzug. Bei dem ersten Mal war ich etwa 10 Jahre alt. Obwohl ich Kind war, erlebte ich Ausgrenzung. Während den Zusammenkünften saßen wir in einem Nebenraum, von dem großen Saal durch eine Glasscheibe getrennt. Diese Ausgrenzung weitete sich auf die Schule aus. Ich hatte die klassische Außenseiterrolle inne. Kein Wunder, denn bei nichts durfte ich mitmachen. Keine Klassenfeier, kein Geburtstag, keine Klassenfahrt.
Ich erinnere mich an die Weihnachtszeit – Ich habe ganz tief in mir drin immer geschwärmt, wenn alles so wunderschön mit Lichtern dekoriert war. Das war mein kleines Geheimnis und doch bete ich immer um Vergebung, da es mir so sehr gefiel.
Es war alles andere als leicht, den Anforderungen gerecht zu werden und ich schaffte es nie. Ich lebte in dem Gefühl, nicht gut genug zu sein. Einfach „Anja sein“ reichte nicht aus.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Mit meiner Ausbildung zog ich daheim aus und wechselte die Versammlung. Dort hatte ich das Gefühl, dass unter den Mitgliedern große Unterschiede gemacht wurden. Auch geschäftliche Angelegenheiten. Mein Empfinden war, dass es nicht ehrlich und aufrichtig unter den Ältesten zuging. So schrieb ich voller Vertrauen einen kritischen Brief ans Bethel in Selters, die Zentrale in Deutschland. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich wurde schriftlich ermahnt, meine Einstellung zu überdenken und mich sehr genau zu prüfen, ob ich den gebotenen Respekt gegenüber den älteren Männern entgegenbringe. Die Frau sei dem Manne untertan. Ich war offiziell angezählt. Das versetzte mir einen tiefen emotionalen Stich. Wo waren die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, die Transparenz, die gepredigt wurde? So wuchsen erste Zweifel. Aber nicht am Glauben selbst, sondern den Menschen, die sich so parteiisch verhielten.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Der Glaube war tief in mir verankert, ich bin darin erzogen worden.
Nach meinem Auszug daheim entdeckte ich zunehmend den Spaß am Leben. Weggehen, mit Kollegen etwas trinken gehen. Ich verliebte mich unsterblich in einen Kollegen, der heute mein Seelenverwandter und Lebenspartner ist. Für ihn besuchte ich mit 21 die erste Geburtstagsparty meines Lebens. Da es für uns noch nicht an der Zeit war, lernte ich meinen Mann kennen. Er war ebenfalls ein Weltmensch und wir kamen sehr schnell zusammen. Mein Doppelleben war nur von kurzer Dauer. Es fiel auf und ich wurde zu Gesprächen gebeten. Denn eine Partnerschaft mit einem Weltmenschen und dann noch Sex vor der Ehe sind sehr große Sünden. Mein Paps, kein Zeuge Jehovas, vermittelte mir einen Sektenbeauftragten. Er schaffte es in 3 Stunden mein gesamtes Glaubensgebilde, alles für das ich gelebt und gelitten habe, einstürzen zu lassen. Er hatte viele Unterlagen von den Zeugen Jehovas, die seine Aussagen belegten. Ich war derart out of order, dass mir ein schwerer Fehler auf der Arbeit unterlaufen ist, den beinahe ein Mensch mit dem Leben bezahlt hätte. Danach verfasste ich meinen Brief an die Ältesten meiner Versammlung und erklärte schriftlich meinen Ausstieg. Ich wollte ihnen nicht die Möglichkeit geben, mich auszuschließen.
5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Ich war damals davon betroffen. Ich habe zwar meinen Ausstieg selbst verkündet, macht unterm Strich aber keinen Unterschied. Ich war in 3 Versammlungen beheimatet und hatte in allen 3 tiefe Verbindungen. Diese waren von jetzt auf gleich allesamt verloren. Ich hatte Angst in die Stadt zu gehen, weil ich fürchtete jemanden zu treffen. Ich hatte riesengroße Angst vor meiner Mutter. Sie sprach zwar noch mit mir, aber alles sehr distanziert. Ich kam sehr schnell in eine Selbsthilfegruppe Jockgrim/Karlsruhe und von dort aus wurde vom WDR ein Interview mit mir gedreht. Als die Sendung ausgestrahlt wurde, wurde ich als Teufelsanbeterin tituliert und war nun erst recht im wahrsten Sinne gestorben, für so ziemlich alle Menschen, die ich innerhalb der Gemeinschaft kenne. Und das waren viele.
b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Als ich noch aktives Mitglied war, habe ich mich auch so verhalten. Man hinterfragt diese Regeln nicht. Sie werden mit Bibelversen begründet und damit ist genug gesagt und erklärt. Daher habe ich niemals Vorwürfe gegen den einzelnen Zeugen erhoben oder Groll gehegt. Die einfachen Mitglieder wissen es nicht besser. Mein Zorn, meine Enttäuschung richtete sich gegen die Wachtturmgesellschaft als solche. Diese Machenschaften, die im Verborgenen laufen, das Messen mit zweierlei Maß machte mich unfassbar wütend. Bestärkt wurde ich ungemein vom Buch Raymond Franz „Der Gewissenkonflikt“. Wenn man erfahren möchte, wer die Drahtzieher sind, und mit welchen Mittel agiert wird, sollte man es lesen.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
25 Jahre nach meinem Ausstieg geht es mir sehr gut. Es war ein langer Weg. Ich habe viel Zeit in Selbsthilfegruppen und Aussteigerforen verbracht, um einen Weg für mich zu finden. Es war anstrengend, es hat sich jedoch gelohnt. Heute kann ich echt sagen: „Ich bin froh und dankbar, ein Weltmensch zu sein!“. Ich lebe, genieße das Leben und verfolge immer mehr meinen eigenen Seelenplan. Und das fühlt sich einfach nur so befreiend, lebendig und erfüllend an.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Es war alles nicht schön, es war sehr sehr schwer und ich habe in sehr viel Angst gelebt. Ich bin mir dankbar, für mich auf meinen Weg losgegangen zu sein. Ich bin nicht wehmütig oder denke darüber nach, wie mein Leben ohne diese Erfahrungen verlaufen wäre. Ich bin die, die ich heute bin, nur mit diesen Erfahrungen, die ich damals gemacht habe. Es hat mich so stark gemacht und ist heute ein Teil meiner Power, andere Menschen durch meine Arbeit so zu begleiten, wie ich es tue.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Ich rate dir, dich nicht ausschließlich mit der Literatur der Wachturmgesellschaft zu befassen. Ja, es ist verpönt, Literatur von Weltmenschen zu lesen. Du kannst die Wahrheit, deine Wahrheit nur dann finden, wenn du aus verschiedenen Blickwinkeln drauf schaust. Nur vom Innern der Wachtturmgesellschaft drauf zu schauen, ist wie Scheuklappen aufsetzen. Und ich verstehe dich, das macht Angst. Angst vor dem was du entdecken und erfahren könntest. Sei dir sicher, was auch immer du erfahren wirst, so liegt die Entscheidung trotzdem bei dir, zu bleiben oder zu gehen. Und wenn du gehst oder dich distanzierst, sei dir sicher, es wartet ein Leben auf dich! Ein anderes Leben und es kann so schön werden. Wenn du kein stärkendes Umfeld außerhalb der Gemeinschaft hast, binde dich bei Selbsthilfegruppen an. Suche aktiv den Kontakt, denn du wirst in keinem Fall allein gelassen. Denn wahre Nächstenliebe kennt keine Religion, keine Nationalität, kein Geschlecht.