ÜberLebensweg – Stefan Kluge aus Berlin

Stefan Kluge aus Berlin
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich bin fast reingeboren worden. Ich selbst bin 1964 geboren und meine Eltern haben 1968/1969 ein „Bibelstudium“ mit den Zeugen begonnen und sich taufen lassen. Trotz späterer Rückfrage habe ich nie erfahren, was genau sie dazu bewogen hat. Ich selbst erinnere mich noch an ein oder zwei Weihnachtsfeste und Kindergeburtstage vor dieser Zeit.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

In Verbindung mit Kindheit und Jugend verlief mein Leben aus meiner jetzigen Sicht zunächst noch einigermaßen „normal“. Das lag meines Erachtens daran, dass meine Eltern keine superstrengen Zeugen Jehovas waren. Sie achteten zwar auf Dinge wie den regelmäßigen Versammlungsbesuch und gewisse andere „Standards“, die bei den Zeugen Jehovas üblich waren, aber ich durfte z.B. durchaus außerschulischen Kontakt zu Klassenkameraden haben. Dadurch bin ich in der Schule zwar dadurch aufgefallen, dass ich nicht Geburtstag, Julklapp u.Ä. feierte, aber ansonsten war ich anerkanntes Mitglied der Klassengemeinschaft. Meine Eltern „gestatteten“ es mir sogar, das Abitur zu machen. Da anschließend jedoch kein Studium möglich war und ich stattdessen eine Ausbildung machte, die mich eher langweilte, und ich nach Beendigung der Schule auch keine großen sozialen Kontakte außerhalb der Zeugen Jehovas mehr hatte, war ich auf die Zeugen Jehovas zurückgeworfen und habe mich ab diesem Zeitpunkt dort stärker integriert.
Was inhaltliche Überzeugung angeht, bin ich eher ein rationaler Mensch. Zu diesem Zeitpunkt war ich einigermaßen überzeugt, dass die Lehren der ZJ inhaltlich korrekt sind. Glaube war bei mir eine rationale Sache, keine Sache des Gefühls. Ich habe sogar in der Schule Referate zum Thema „Schöpfung oder Evolution“ gehalten, die die Lehren der ZJ widerspiegelten, ohne dass ich von den Lehrern korrigiert wurde! Ich denke heute, wenn sich jemand von den Lehrkräften mal die Mühe gemacht hätte, sich ernsthaft in eine Diskussion einzulassen und saubere Argumente zu bringen und vielleicht auch Unterstützung anzubieten, dass ich vielleicht schon viel früher ausgestiegen wäre.
So wurde ich stattdessen mit 19 oder 20 Dienstamtgehilfe und wurde als eifriges Versammlungsmitglied geschätzt. Ich heiratete und war mit meiner Frau einige Jahre im Pionierdienst und wurde mit Ende 20 Ältester. Es gab bei mir zwar immer mal wieder einige Anflüge von Zweifel (die ich meist für mich behielt) und meine Frau und ich waren nach unserer Phase im Pionierdienst keine begeisterten Predigtdienstgänger mehr, aber ich war als Ältester anerkannt und wir konnten in der Versammlung das eine oder andere sozial bewirken. Es gab in unseren Zwanzigern und Dreißigern keine ernsthaften Überlegungen, die Sache in Frage zu stellen.
 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Ich würde sagen, bestimmte Gründe habe sich kumuliert. Zu einen gab einige zwischenmenschliche Probleme in der Versammlung. Als Ältester musste ich hin und wieder in „Rechtskomitees“ mitmachen. Dabei habe ich nichts von Gottes Mitwirkung gespürt und das hat mich gewundert. Dann gab es immer wieder bestimmte Fragen zu Lehren, die sich nicht zufriedenstellend klären ließen. So liefen etwa Nachforschungen, die ich zum Jahr 607 anstellte, immer wieder ins Leere. Dann hatte ich über längere Zeit ein „Bibelstudium“ mit einem philosophisch gebildeten Menschen, der mir immer wieder Fragen stellte, die ich trotz Nachforschungen nicht gut beantworten konnte.
Das ausschlaggebende Ereignis war dann tatsächlich eine neue Runde im Bibelleseprogramm. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Ein Gott, der so handelte, wie in den Bibelbüchern Mose, Josua und Richter beschrieben, konnte kein liebevoller Gott sein, der zudem noch gerecht handelte. Ein solcher Gott gehörte vor ein Kriegsverbrechergericht gestellt.
Im Herbst 2010 bin ich dann zum Kreisaufseher gegangen und habe ihm mitgeteilt, dass ich kein Ältester mehr sein kann. Man hat mich dann davon „freigestellt“ und mich kurz danach nochmal inquisitorisch befragt, um festzustellen, ob ich eine Gefahr für die Versammlung bin. Ab diesem Zeitpunkt sind wir als Familie nicht mehr in die Versammlung gegangen.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen deinen Glauben in Frage zu stellen?

Glauben war bei mir, wie bereits erwähnt, eher eine rationale Sache. Ich habe, insbesondere anfangs, zwar auch immer wieder versucht, eine emotionale Verbindung zu „Gott“ aufzubauen. Das hat aber nicht geklappt. Mit Gebeten hatte ich meine Schwierigkeiten. Das fiel aber in der Gemeinschaft nicht weiter auf, solange man seinen „Job“ gemacht – und auf rationaler Ebene, gab es bei mir, wenn auch nachlassend, noch so etwas wie einen Vernunftglauben.
Als Familie waren wir gut in die Gemeinschaft integriert. Ich machte meine Arbeit als Ältester und war z.B. oft als Vortragsredner in den verschiedenen Versammlungen eingeteilt. Aber es gelang mir nur sehr selten, so etwas wie echte persönliche Freundschaften aufzubauen, was mich wunderte. Ich spürte auch zunehmend, wie sehr mich Inhalte von Wachtturm, Erwachet und Zusammenkünften langweilten. 
Ja, und dann stellten sich Zweifel ein, wie oben schon beschrieben.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ich bin von Ächtung betroffen, wie jeder, der die Zeugen verlässt. Allerdings ist die Sache bei mir nicht so schlimm. Zu meinem Vater hat sich der Kontakt auf ein absolutes Minimum reduziert; zu meiner Schwester, die auch Zeugin ist, habe ich seitdem keinen Kontakt mehr, allerdings war unser Kontakt auch vorher nicht besonders intensiv. Echte Freunde hatte ich unter Zeugen nur sehr wenige, und diesen wenigen trauere ich etwas nach, allen anderen nicht. Zu einigen anderen hat sich der Kontakt wieder vertieft, weil sie auch ausgestiegen sind.
Ein großer Pluspunkt ist, dass wir als Kernfamilie (meine Frau und ich sowie unsere beiden Kinder) ausgestiegen sind. Insgesamt habe ich unter dieser Thematik sehr viel weniger zu leiden als andere.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich erinnere mich an ein Erlebnis, das ich kurz nach meinem Ausstieg im Herbst 2010 hatte. Das war für mich ein Augenöffner. Ich bin von Natur aus ein neugieriger und interessierter Mensch und fragte mich, was ich denn jetzt nach dem Ausstieg mit der gewonnenen Zeit und Freiheit anfangen könnte. Damals wurden bei uns von einer Universitätsgesellschaft für interessiertes Publikum wöchentliche Vorträge (!) zu wechselnden, völlig verschiedenen Themen angeboten, die von Professoren und anderen wissenschaftlichen Mitarbeitern gehalten wurden. Bei einem der ersten Vorträge, die ich besuchte, ging es um das Thema „Theodizee“ (Rechtfertigung Gottes). Der Inhalt, die Art der Präsentation und die anschließende Diskussion wirkten auf mich so belebend wie ein Glas Champagner. Das war es, was ich bei den Zeugen vermisst hatte. Der offene, weite, unverstellte, unzensierte Blick auf alles, was passiert. Alles konnte besprochen, diskutiert, hinterfragt werden. Und das trägt mich bis heute: Eine Begeisterung für die große Welt, die es zu entdecken gilt, mit all ihren guten und schlechten Seiten. Ich bin so froh, da raus zu sein; schade, dass es nicht früher geklappt hat. Nichts von dem, was Zeugen Jehovas sagen, macht mir noch Angst.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Es gibt viel verlorene Zeit, viele verpasste Gelegenheiten. Aber ich weiß natürlich, dass es einem als Quasi-Hineingeborenen schwerfällt, die ganzen Mechanismen und impliziten Drohungen zu durchschauen. Ich bin auch per se kein besonders mutiger Mensch, sonst wäre ich vielleicht schon vorher entkommen. Andererseits, und das ist ein großes Glück, konnten wir in der Vergangenheit eine gute Kernfamilie aufbauen, die den Ausstieg gemeinsam gemeistert hat. Das ist viel. Und ich weiß gerade durch die Vergangenheit vieles in dieser Welt zu schätzen, was andere vielleicht als selbstverständlich nehmen. Seit 2018 studiere ich mit großem Vergnügen an der Humboldt-Universität zu Berlin Geschichte und Philosophie. Etwas, was mich nach der „toten“ Zeugenzeit sehr bereichert.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Für „Neueinsteiger“: Ich bin ein großer Freund von freien Entscheidungen. Jeder soll das machen, was ihn glücklich macht. Aber es muss auf einer offenen, ehrlichen und transparenten Basis beruhen, und die ist meines Erachtens bei Zeugen Jehovas nicht gegeben. Darum sollte man sich unbedingt vorher gewissenhaft informieren. Das ist durch Internetrecherche heute ja kein Problem mehr. Es gibt in der Geschichte von Zeugen Jehovas so viele Punkte, die mich nur den Kopf schütteln lassen, seien es vorhergesagte „Großereignisse“, die nicht eingetroffen sind, seien es wilde Zeit- und Begriffsspekulationen („Die Generation“) und viele andere. Es gibt das Sprichwort: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet …“ und das gilt in diesem Falle ganz besonders.
Für Zweifler: „Ich zweifele, also bin ich“. Zweifel sind eine Form der Lebendigkeit. Zweifel müssen angemessen behandelt, also am besten geklärt werden – und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Wenn man daran gehindert wird, dann sollte man seine Sachen packen und gehen. Es wartet eine große spannende Welt da draußen.  

  • Über seine ersten Eindrücke nach dem Ausstieg berichtet Stefan auf dem YouTube-Kanal „Birgit und Stefan Kluge“ hier!