ÜberLebensweg – Sophie aus Wien

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Ich wurde quasi hineingeboren – meine Mutter beschloss zu Beginn der Schwangerschaft die Bibel zu studieren, um für mich das scheinbar Richtige zu tun.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Es war nicht nur schlecht. Bei den ZJ sind viele herzensgute Menschen, die eigentlich nur Gutes bewirken wollen. Ab und an gibt es sogar Gespräche und Freizeit ohne der Religionsthematik, auch Eltern, die ihr Kind „Kind“ sein lassen. Daraus habe ich Stärke gewonnen und mich als Kind aufgehoben gefühlt – es fühlte sich wirklich an wie eine große Familie. Dass es Liebe unter Bedingungen ist musste ich feststellen, sobald ich nicht wie gewohnt funktionieren konnte, da war es dann vorbei mit Familie und Hilfe erhalten.
Der Alltag war (auch als alles noch „gut“ lief) für mich von Stress, Druck und Angst geprägt. Möglichst perfekt zu sein und ja keinen kleinen falschen Gedanken zu haben. Denn dann wäre ich ein böser Mensch, der Vernichtung verdient hat. Ungeliebt, nicht gut genug und noch dazu ein Lügner, weil ich sowas ja nach außen verbergen musste. Klar, dass den Anspruch niemand erfüllen kann, auch ich hatte gefühlt sehr viel „Böses“ in mir, also habe ich mich gehasst und auf meine Strafe gewartet. Die Vernichtung kam nicht, also habe ich mich als Teenager irgendwann begonnen selbst zu verletzen, als Strafe für…. im Grunde NICHTS – dafür, normal zu sein! Als Erwachsene habe ich mir dann psychologische Hilfe gesucht. Ab diesem Zeitpunkt galt ich als „nicht mehr so vorbildlich“. Erst recht nicht, als es mir durch die Hilfe der bösen Welt besser ging – nach dem Motto: „Da kann was nicht stimmen!“ – immerhin zerstört das total deren Weltbild. 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Immer brav und angepasst zu sein und damit einen Teil von sich selbst zu verleugnen, wurde mir schrittweise zu viel. Jahrelang suchte ich bei Vorbildern in der Versammlung Hilfe, damit ich es endlich schaffe, mehr Freude im Glauben zu haben. Ich hoffte, jemand kann mich lehren, das alles endlich wirklich zu wollen. Trotz vieler Versuche konnte mir niemand beantworten wie das geht. Währenddessen wurde ich immer kaputter, von Selbsthass zerfressen, da ich dachte, ich habe aufgrund meiner Wünsche Vernichtung verdient – wollte mich ändern, aber konnte nicht. Ich war der Überzeugung, nicht gut genug zu sein, dass mit mir einfach etwas nicht stimmt. Ich mich nicht genug anstrengen würde oder einfach von Grund auf Böse zu sein. Ich beging immer mehr „Sünden“ um zu zeigen, dass ich anders bin als die braven Mitglieder, um endlich Hilfe zu bekommen. Der Druck von außen wurde aber nur größer, man begann mich damals schon abzulehnen und zu shunnen (Shunning = Ächtung / Anm. jz.help), obwohl ich jedes Mal ehrlich bereute und mich bemüht hatte. Die wiederkehrenden Selbsthass- und Selbstmordgedanken traten immer nur bei den Versammlungsbesuchen auf. Nach einem langen Kampf habe ich dann endlich gesehen, dass es weder gesund, noch von Gott gewollt sein kann in so einer Spirale zu stecken. Um mich selbst zu schützen verließ ich schließlich die Gemeinschaft freiwillig mit 23. Es war reiner Selbstschutz – ich konnte und wollte nicht so weitermachen.
Plötzlich war ein Großteil meiner Symptome weg. Ich hatte auch nicht mehr den Drang, unbedingt „Böses“ tun zu müssen und begann nun ein gesundes Leben.
Im Nachhinein betrachtet war dieser schrittweise Ausstiegsprozess für mich genau richtig. Ich musste in kleinen Schritten zu mir selbst finden und gleichzeitig lernen, wie die Realität abseits dieser Gemeinschaft aussieht. Ich fühlte mich teilweise wie ein kleines Kind, das alles zum ersten Mal sieht und kennenlernt.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Schon früh hatte ich mich angestrengt, ein Vorzeige-Zeuge zu werden, da das von mir erwartet wurde. Ungetaufter Verkündiger wurde ich mit 8, sofort erhielt ich die ersten Aufgaben auf der Bühne – bei meiner Taufe war ich 13. Schon bald habe ich einen Großteil meiner Zeit für verschiedene Projekte und Aufgaben verwendet um meinen Ältestenpapa zu unterstützen. Ich hatte auch Freude daran, aber nur weil ich dadurch die Anerkennung und Aufmerksamkeit genoss, die ein Kind eigentlich „gratis“ erhalten sollte. Mein erstes Burnout hatte ich daher mit 14. Für mich war DIE große ZJ-Karriere vorgesehen, auch meine Ausbildung wurde daran angepasst. Ich spürte aber schon damals, dass ich so ein Leben tief drin nicht wollte. Nie malte ich mir meine Zukunft schön aus, es war für mich ein dunkles Bild von „So und so werde ich dann leben müssen und ich hoffe, ich halte es aus!“. Meine Auszeit war damals mein Vormittag in der Schule, die paar Stunden in denen ich normal sein durfte und nicht hohen Anforderungen entsprechen musste. Da begann ich zu bemerken, dass da etwas nicht stimmt, fühlte ich mich doch bei den „bösen Weltmenschen“ wesentlich wohler.
Erst einige Jahre nach meinem Ausstieg begann ich mich mit den Themen auseinanderzusetzen, damals hätte ich die Kraft nicht gehabt, bzw. waren die Ängste noch zu stark. Lange war ich noch der Überzeugung, einfach nicht stark genug gewesen zu sein und daher nun den Tod verdient zu haben. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

An dem Tag der Bekanntmachung meines Ausstiegs verlor ich meinen Vater und einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Sehr viele davon kannten mich bereits mein ganzes Leben, sie waren wie Eltern/Tanten/Großeltern für mich, mit anderen bin ich groß geworden.
Man gab mir damals vor der Bekanntmachung etwas Zeit, um mich zu verabschieden. Aber seit meinem offiziellen Ausstieg habe ich von keinem einzigen je wieder ein Wort gehört. Sehen mich Menschen von damals zufällig auf der Straße, gehen sie an mir vorbei, als wären wir Fremde. Todesfälle erfahre ich durch Zufall lange Zeit später online, wenn überhaupt. Ich bin sicher, dass es mir niemand mitteilen würde, würde meinem Vater eines Tages etwas passieren.
Ich trage das niemandem nach, immerhin kann ich es nachempfinden, wie man in der Gruppierung tickt. Ich selbst habe früher genauso gehandelt. Uns wurde beigebracht, dass wir einem Ausgeschlossenen damit etwas Gutes tun.
Die Menschen selbst, abseits ihrer Fassade sind ein Teil von mir geblieben. Ich denke oft an sie und hoffe nur, dass es allen gut geht. Familienmitglieder (und andere, ähnlich nahe Personen) zu behandeln als wären sie gestorben, obwohl sie noch am Leben sind, ist unnatürlich und daher denke ich, nie ganz zu verdauen – der Schmerz bleibt daher, aber es wird nach Jahren leichter. 
Aber es ist deren Entscheidung mich nicht so annehmen zu können, wie ich bin.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich bin stabil und mit meiner Vergangenheit im Reinen. Dank lieber Menschen in meiner Nähe darf ich heute ein zufriedenes Leben führen. Allerdings vermeide ich es bis heute Nachrichten zu schauen, oder mich zum Beispiel mit Berichten über Kriege zu befassen – sobald Bilder drin vorkommen. Belastet mich aber nicht, da Lesen auch reicht, um informiert zu sein. Sehe ich so etwas durch Zufall, treten heftige Angstattacken und Alpträume auf, die ich nicht steuern kann. Muss dazusagen, dass genau in meinen prägenden Kinderjahren das Offenbarungsbuch mehrmals durchgenommen wurde mit dem Fokus auf Vernichtung der bösen Welt in detaillierten Bildern. In meiner Umgebung wurde damals nicht darauf geachtet, was ein Kind sehen sollte und was nicht, heute ist das vielerorts anders. Als diese Thematik durch war, war die NS-Zeit dran, ebenfalls bis ins Detail. Wenn man als Kind in eine ehemalige Gaskammer mitgenommen wird und einem dort gesagt wird „Schon morgen könnte dasselbe dir passieren, aber das musst du Gott zuliebe aushalten!“, dann ist das kein Wunder, dass da eine etwas ängstliche Grundhaltung zurückbleibt.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Es ist eine Erfahrung, die nur stärker machen kann – und mitfühlender! Es hat mir ermöglicht, vieles zu erlernen, das nur hilfreich im Leben sein kann. Zum Beispiel kann mit den schwierigsten Situationen umgehen und das Beste daraus machen. Ich bin dankbar für Fähigkeiten wie diese und nutze sie so gut ich kann, um anderen zu helfen, die ähnliches erlebt haben. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Hört nicht auf, auf euch selbst zu hören! Ignoriert bitte nicht, wenn Ihr spürt, dass etwas – und sei es nur eine scheinbare Kleinigkeit – nicht in Ordnung ist! Überlegt gut, was sich für euch persönlich richtig und falsch anfühlt und wie ihr leben wollt! Vergesst nicht, was euch als Menschen ausmacht, was für Wünsche, Interessen und Hobbys ihr habt und geht dem nach. Egal, was jemand anders davon hält – jeder hat das Recht glücklich zu leben! Stark sein kann nur der, der sich selbst treu geblieben ist. Da spielt es keine Rolle, wieviel Leute man damit zufrieden gemacht hat. Und das Wichtigste: passt gut auf euch auf!