Social Media hat die Sektenberatung und Aufklärung über problematische Gruppen von Grund auf verändert und hat damit eine völlig neue Qualität erhalten.
Situation der Betroffenen
Jehovas Zeugen werden mit der Mitgliedschaft durch die Taufe, die oft schon im Kindesalter stattfindet, Grundrechte verwehrt. So das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit: Mit der Einwilligung in eine Bluttransfusion, auch wenn diese lebensrettend ist, sind sie in Gefahr, ihr ganzes soziales Umfeld zu verlieren. Denn Familie und Freunde müssen eine Person, die infolge einer schweren Sünde, wie das Akzeptieren einer Bluttransfusion, ausgeschlossen wird, ächten. Sie müssen jeden Kontakt zu ihr abbrechen, dürfen sie nicht einmal mehr grüßen. Ein Zeugen Jehovas, der eine Bluttransfusion braucht, muss sich also entscheiden zwischen Sterben und Hoffnung auf ewiges Leben im Paradies auf der Erde – oder Leben ohne Familie und in totaler Isolation.
Auch das Grundrecht auf freie Wahl der Religion gilt für Jehovas Zeugen nicht. Verlassen sie den Glauben, werden sie als Abtrünnige geächtet und verlieren ihr gesamtes soziales Umfeld. Die Doktrin der Zeugen Jehovas begünstigt außerdem sexuellen Kindesmissbrauch und Gewalt in der Ehe. Dies, weil durch die Vorgaben der Organisation, wie die Zwei-Zeugen-Regel, die Taten verschleiert und die Täter geschützt werden. Die Zwei-Zeugen-Regel besagt, dass Hinweisen auf (sexuelle) Gewalt nur nachgegangen wird, wenn das Opfer weitere Zeugen der Tat benennen kann.
Jehovas Zeugen, die über einen Ausstieg nachdenken, haben in der Regel niemand in ihrem persönlichen Umfeld, mit dem sie über ihre Situation reden können. Oft können sie sich nicht einmal ihrem Ehepartner/in anvertrauen oder den erwachsenen Kindern, weil diese zu den Ältesten gehen müssten, um sie zu „melden“. Weil Jehovas Zeugen keinen Kontakt zu „Weltlichen“ oder gar Abtrünnigen haben dürfen, wissen Ausstiegswillige oft auch nicht, was sie erwartet: Sie haben außerhalb der Gruppe kaum soziale Kontakte, verlieren mit dem Ausstieg ihr ganzes soziales Umfeld und haben vom Leben in der Welt außerhalb nur negative Vorstellungen vermittelt bekommen. Die allermeisten Ausstiegswilligen leiden zudem unter starken Ängsten und Depressionen: seit ihrer frühesten Kindheit hören sie tagtäglich, dass alle Nicht-Zeugen-Jehovas im nahen Harmagedon eines schlimmen Todes sterben werden.
Öffentliche Wahrnehmung im Wandel
Demgegenüber stand bis vor kurzem das eher biedere, aber harmlose Image der Zeugen Jehovas in der Öffentlichkeit. Erst in den letzten Jahren hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung ein Wandel vollzogen – dies infolge der weltweiten Berichterstattung über die endemische Verbreitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Gemeinschaft. Durch staatliche Untersuchungen in Australien, Großbritannien, Holland oder Belgien entsteht allmählich ein anderes Bild der Gemeinschaft. Allerdings ist weder einer breiten Öffentlichkeit noch der Politik bekannt, welches Ausmaß an Gewalt Zeugen Jehovas-Kinder erleben. Aber auch hier regt sich vermehrt Widerstand. Immer mehr Fachpersonen warnen, dass Zeugen Jehovas-Kinder eine besonders vulnerable Gruppe darstellen: Sie wachsen völlig isoliert auf, für die meisten von ihnen stellt das religiöse Programm eine körperliche und psychische Überforderung dar, schwere Verängstigung und soziale Ausgrenzung in der Schule ist zentraler Bestandteil ihrer Sozialisation, während ihnen höhere Bildung verwehrt wird. Gleichzeitig wird sexueller Missbrauch an Kindern oder häusliche Gewalt innerhalb der Gemeinschaft kaum je angezeigt.
Chancen durch Social Media
Social Media hat die Aufklärung über sektenhafte Gruppen wie Jehovas Zeugen, die Mormonen oder enge freikirchliche Gemeinschaften von Grund auf verändert. Waren es vorher die eher leisen Stimmen von Fachpersonen aus den Bereichen Weltanschauung oder Jugendschutz, die für die Betroffenen gesprochen haben, sind es heute die Betroffenen selbst, die dank Social Media eine eigene Stimme erhalten haben. Durch Social Media hat die Aufklärung über sektenhafte Gruppen eine völlig neue Qualität erhalten:
Betroffene können für sich selbst sprechen
Nicht nur einige wenige Personen, die ein Buch schreiben über ihre Erfahrungen oder von einer Journalistin interviewt werden, können über ihre Erfahrungen berichten, sondern Hunderttausende, die von sektenhaften Gruppen betroffen sind. Der englischsprachige reddit-Sub der Zeugen Jehovas hat 30.000 Teilnehmende, in deutschsprachigen Facebook-Foren tauschen tausende Betroffene ihre Erfahrungen aus. Hunderte Betroffene berichten in YouTube-Beiträgen über ihre Erfahrungen, teilen auf Websites, Facebook oder Instagram Informationen, die sie für anderen ebenfalls hilfreich finden. Aber auch Sektenberatungs- und Weltanschauungsstellen nutzen die Möglichkeiten der Neuen Medien, was auch zu einer neuen Dynamik der Zusammenarbeit geführt hat: einer zunehmend partnerschaftlichen Zusammenarbeit verschiedener Player mit dem gleichen Ziel. Für Personen, die sich in einer sektenhaften Gruppe Gedanken machen über ihre Situation, ist das eine völlig andere und viel günstigere Ausgangslage als noch vor zehn Jahren.
Betroffene können sich informieren
Enge Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass Mitglieder nicht frei sind in der Informationsbeschaffung. Jehovas Zeugen ist es strikt verboten, mit «Abtrünnigen», d.h. Personen, welche die Gemeinschaft verlassen haben, Kontakt zu haben bzw. Literatur von Abtrünnigen lesen. Durch die Neuen Medien beginnt mancher Ausstieg in der Nacht am PC: Betroffene suchen nach Informationen über ihre Gemeinschaft, nach Berichten von Ausgestiegenen, nach Medienberichten z.B. zum Thema sexuellen Kindesmissbrauchs, das viele direkt oder indirekt betrifft, über das die Organisation jedoch kaum informiert.
Viele erleben bei solchen Recherchen erstmals eine Aussensicht, z.B. auf das sog. «Blutverbot» und realisieren, dass aufgrund von diesem seit den 1960er Jahren zwischen 30.000 – 50.000 Menschen gestorben sind – und das ist ein ganz anderes Bild als das von der Organisation gezeichnete.
Die Vernetzung durch die sozialen Medien erlaubt ausserdem schnellen und leichten Zugang zu Informationen über Geschehnisse auch ausserhalb des eigenen Kultur- und Sprachraums. Im englischsprachigen Sub von reddit sind 30.000 Personen aus verschiedensten Ländern aktiv. Sie informieren über Ereignisse und Berichterstattung in ihrem Sprachraum.
Betroffene erfahren durch anderen Betroffene Unterstützung
Die Situation von Ausstiegswilligen aus sektenhaften Gruppen ist eine besondere. Sie erleben sehr spezifische Belastungen: Für die meisten Zeugen Jehovas bedeutet das Verlassen der Organisation den Verlust der ganzen Familie und aller Freunde – sie verlieren jeden sozialen Bezug. Gleichzeitig erleben sie das Einstürzen des für sie sinn- und richtunggebenden Wertesystems, während sie sich in einer Umgebung zurechtfinden müssen, von der sie gelernt haben, dass sie in höchstem Masse bedrohlich ist. Und fast alle Ausstiegswillige leiden unter schweren Ängsten, weil es im Kern der Lehre um die Vernichtung aller Ungläubigen und Abtrünnigen geht.
Für Aussenstehende ist diese existentielle Krise, die ein Ausstieg notwendigerweise mit sich bringt, oft nur schwer nachvollziehbar, häufig sind auch Fachpersonen nur bedingt in der Lage, die Situation der Betroffenen zu erfassen.
Erfahren Ausstiegswillige und Ausgesteigene, dass es andere Betroffene gibt, die das gleiche erleben, ist das eine grosse Erleichterung: Sie sind nicht allein.
Menschen in sektenhaften Gruppen werden daran gehindert, Bedürfnisse zu formulieren, ihre Situation kritisch zu analysieren oder Denkstrukturen zu hinterfragen. Genau das müssen Aussteiger/innen aber in besonderem Masse leisten. Und genau hier erfahren sie heute dank der sozialen Medien enorme Unterstützung. Andere, die das gleiche durchgemacht haben wie sie, benennen die Schwierigkeiten, die sie erlebt und gemeistert haben. Formulieren ehemalige Zeugen Jehovas, die schon weiter sind im Ausstiegsprozess, mit was für Ängsten und Vorstellungen sie zu kämpfen hatten, ist das eine unschätzbare Hilfe für Betroffene, die sich gerade neu orientieren müssen.
Betroffene erleben sich als Community
Es gibt Tausende Ausstiegswillige und Ausgestiegene im deutschsprachigen Raum, aber Betroffene, die sich austauschen möchten, müssen sich finden. Dabei leisten v.a. Facebook-Foren einen unschätzbaren Beitrag. Viele Betroffene interagieren über Jahre im virtuellen Raum und tauschen sich privat oder auch professionell aus, bevor sie sich zum ersten Mal in Realität begegnen. Manche haben in ihrer Umgebung keine anderen Aussteiger/innen, mit denen sie sich austauschen können, andere sind offiziell noch in der Organisation der JZ drin.
Unser Vereinsmitglied Barbara Kohout war im deutschsprachigen Raum eine Pionierin der Nutzung neuer Medien in der Beratungs- und Aufklärungsarbeit. Sie beteiligte sich am Berliner Pilotprojekt zur Gründung von Online-Selbsthilfegruppen von NAKOS (das ist die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen). Das Projekt war ein durchschlagender Erfolg. Die verantwortlichen Personen der Evaluationsgruppe von NAKOS zeigten sich erstaunt, wie gross die Nachfrage von Seiten von Betroffenen war und als wie hilfreich und nachhaltig sich der Austausch für die Teilnehmenden erwies.
Mit dem Aufkommen von Facebook und seiner einfacheren Handhabung ging diese frühe schriftliche Online-Selbsthilfegruppe dann im Facebook-Forum Ex-Zeugen Jehovas auf, das heute von mehreren Hundert Personen genutzt wird.
Das war vor ca. 10 Jahren. Heute gibt es mit Zoom und anderen Diensten Möglichkeiten der visuell unterstützen Kommunikation, was neue Möglichkeiten der online-Selbsthilfe erschliesst.
Austausch und Aktivismus auch möglich für JZ, welche die Organisation nicht verlassen können
Gerade für JZ, die nicht aussteigen können, weil sie sonst den Ehepartner/in oder ihre Familie verlieren würden, bieten soziale Medien die Möglichkeit, sich mit anderen Aussteiger/innen auszutauschen.
Viele JZ bleiben in der Organisation, weil sie sonst Angehörige verlieren würden. Bleiben zu müssen, gerade wenn man Praktiken als bevormundend und unmoralisch beurteilt, stellt eine extreme Belastung dar. Manche dieser «geistig Ausgestiegenen» suchen über soziale Medien den Austausch mit anderen Betroffenen.
Manche sind auch aktiv in der Aufklärungsarbeit, ohne ihre Identität preiszugeben. Einer der bekanntesten Aktivisten, Lloyd Evans von jwsurvey.org, hat während mehrerer Jahre unter dem Pseudonym John Cedars Aufklärungsarbeit geleistet. Mit ihm arbeitet John Redwood zusammen, der sich erst kürzlich als Mark O’Donnell geoutet hat. Der dritte sehr bekannte Aktivist der Plattform jwsurvey.org ist Covert Fade, dessen Identität den vielen Leser/innen seiner Beiträge auf jwsurvey.org, sowie den Betrachtern/innen seiner Videos (von ihm sieht man nur sein Logo), nicht bekannt ist.
Austausch organisations-interner Unterlagen
Wichtige Regelungen bei JZ sind als streng vertraulich klassifiziert und nur ausgewählten Männergruppen zugänglich, wie z. B. Älteste, Kreisaufseher, Bethelmitarbeiter, etc. Trotzdem gelangen diese streng vertraulichen Unterlagen immer wieder in die Hände von ex-JZ-Aktivisten. So war das neue Ältestenbuch im Feb. 2019 bereits am Tag der Freigabe in mehreren Sprachen in der Aussteigerszene verfügbar.
Durch die Vernetzung der Aussteiger über Social Media erhalten wir ebenfalls Zugang zu diesen streng vertraulichen Unterlagen und können diese bei Bedarf auch Behörden, Jugendämtern, Rechtsanwälten/innen, etc. zur Verfügung stellen.
FB wird heute eher von Personen ab 40 genutzt. Dieser Trend zeigt sich auch in der JZ-Aussteiger*innen-Szene. Allerdings sind manche Foren und Seiten so wichtig, dass sie auch von jüngeren Menschen genutzt werden, die FB sonst wenig nutzen.
Im deutschsprachigen Bereich gehört Facebook von Beginn an zu den stark genutzten sozialen Medien durch die Aussteigerszene. Verschiedene Foren bieten sich für verschiedene Bedürfnisse an. JZ, die sich nach dem Verlassen der Organisation evangelikalen Gemeinschaften angeschlossen haben, haben ein eigenes Forum (gläubige Ex Zeugen Jehovas), ebenfalls jene, die weltanschaulich neutral über ihre Erfahrungen sprechen wollen (Ex Zeugen Jehovas). Die Facebook-Seite (JW.Exit – Zeugen Jehovas Aufklärungsportal) besteht seit mehreren Jahren. Ein kleines Team, darunter auch ein Vereinsmitglied, posted zu aktuellen Entwicklungen. Das Portal hat über 2000 Follower. Unsere Facebook-Seite (jw.help) informiert über Vereinsaktivitäten und ergänzt das bestehende Angebot an Information und Austausch.
Seit Kurzem sind wir als Verein auch auf Instagram aktiv, um so auch jüngere Menschen, die nicht auf Facebook sind, anzusprechen. Bei vielen Berichten, die wir posten gibt es gutes Bildmaterial, was dem Medium entgegenkommt.
Bisher haben wir reddit passiv genutzt, d.h. wir haben Informationen von reddit auf Facebook und Instagramm geposted. Wir haben aber nun begonnen, als Verein auf reddit aktiv zu sein, um die Dynamik des großen englischsprachigen Subs zu nutzen.
YouTube
Verschiedene unserer Mitglieder sind auf YouTube aktiv: Barbara Kohout, Walter Schöning und Sophie Jones. Auch unser Verein betreibt auch einen eigenen YouTube-Kanal bietet sich für Erlebnisberichte an, Emotionen werden viel besser transportiert als bei schriftbasierten Medien. Ein Grossteil unserer Zielgruppe(n) schätzt YouTube besonders als Medium, sie scheinen sich über YouTube direkter und persönlicher angesprochen zu fühlen. Auch wenn es um Analysen von Aspekten der Doktrin der JZ geht, schätzen viele Leute die Ansprache über YouTube.
Whatsapp nutzten wir in erster Linie für die vereinsinterne Kommunikation. In den letzten Wochen hat sich aber gezeigt, dass Whatapp auch ein hilfreiches Mittel in der Ausstiegsbegleitung sein kann. Zwei Vereinsmitglieder sind aktiv in einer Whatapp-Gruppe mit frisch Ausgestiegenen bzw. JZ, die wegen den Familien nicht aussteigen können. Die direkte Interaktion über Whatapp, die Präsenz der „anderen Realität“ durch die anderen Whatapp-Gruppenmitglieder geben Whatsapp eine ganz eigene Qualität in der Ausstiegsbegleitung, so dass wir über einen breiteren Einsatz von Whatsapp nachdenken.
Zoom
Zoom Webvideo (bzw. Skype) macht einen Verein mit Aktivmitgliedern, die in ganz verschiedenen Ländern und Regionen leben erst möglich. Die wöchentlichen Mitgliedermeetings finden über Zoom statt, aber auch interne Schulungen z.B. zur Anwendung unserer Cloud-basierten Datenbank. Aber auch die geplante Online-Selbsthilfegruppe soll über Zoom stattfinden.
Weitere Informationen zum Verein finden Sie hier.