1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Ich wurde reingeboren. Väterlicherseits ist die komplette Familie ist bei den Zeugen Jehovas. Mütterlicherseits sind nur meine Oma und meine Mutter bei den Zeugen Jehovas. Zu den Familienmitgliedern, die nicht bei den Zeugen Jehovas waren, wurde der Kontakt auf das Nötigste begrenzt.
Bei Geburtstags- oder Weihnachtsfeiern durften wir nie dabei sein.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Meine Kindheit und Jugend war geprägt von Regeln und Verboten. Mein komplettes Leben drehte sich um den Dienst für Jehova. Ich durfte in keine Fußballmannschaft oder zum Ballett, denn dies hätte mir die Zeit für „wichtigere Dinge“ gestohlen. In meiner Kindheit ist mir ein Satz in Erinnerung geblieben, der immer zu mir gesagt wurde, wenn ich etwas angestellt hatte: „Wenn du das nun tust, steht in der Zeitung nicht, dass ein Kind dies getan hätte, sondern ein Kind eines Zeugen Jehovas! Willst du das? Willst du Jehovas Namen in den Dreck ziehen?“
Innerhalb der Gemeinschaft hatte ich immer das Gefühl, ich würde nicht genug tun. Ständig wurde ich für die Fehler anderer verantwortlich gemacht.
Ich konnte keine eigene Persönlichkeit entwickeln, ich war immer nur der Mensch, den die Zeugen Jehovas von mir erwarteten. Somit hatte ich auch wenig Selbstbewusstsein.
Am meisten zu kämpfen hatte ich mit dem Mobbing in der Schule. Ich war immer die komische Außenseiterin, da ich keinen Geburtstag und kein Weihnachten feierte. Ständig musste ich mich für mein Verhalten rechtfertigen.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Ich entschied mich mit 17 Jahren nicht mehr zu den Zusammenkünften und in den Predigtdienst zu gehen. An meinem 18.Geburtstag zog ich von zuhause aus. Seitdem führte ich ein Doppelleben. Meiner Familie erzählte ich, ich würde mich weiterhin an alle Regeln halten, um den Kontakt nicht zu verlieren. Doch eigentlich nahm ich alles mit, was die „Welt“ zu bieten hatte.
Mit 20 entschied ich mich dazu, reinen Tisch zu machen und entzog mir selbst die Gemeinschaft. Ich schrieb einen Brief an die örtliche Versammlung. Auch meinen engsten Familienangehörigen schrieb ich einen Brief.
Der Ausschluss war so befreiend für mich.
Ich musste niemanden mehr anlügen und konnte endlich ICH SELBST sein.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Ich würde nicht sagen, dass ich stark im Glauben war. Ich habe an all das geglaubt, weil es mir von meiner kompletten Familie vorgelebt wurde. Für mich gab es nur die Zeugen Jehovas. In der Gemeinschaft war ich das Kind der Vorzeigefamilie. Niemand aus meiner Familie hat je rebelliert oder ist ausgestiegen.
Angefangen zu zweifeln habe ich bereits in meiner Pubertät. Jedoch habe ich mich nie getraut Fragen zu stellen, weil ich dann „schwach im Glauben“ gewesen wäre. Man hätte intensiver mit mir studiert und das wollte ich nicht. Ich wollte einfach meine Ruhe.
Doch irgendwann kam eine neue Familie in unsere Nachbarversammlung und ich freundete mich mit der Tochter an. Ich merkte jedoch schnell, wenn man nicht getauft ist, wird man nicht als „vollwertiges Mitglied“ behandelt. Also ließ ich mich mit 16 Jahren taufen, ich war mit dem Ausmaß dieser Entscheidung nicht bewusst. Zu dieser Zeit gab es nur diesen Glauben für mich und meine Familie war sehr stolz auf mich. Ich hoffte auf Aufmerksamkeit und Vorrechte, wurde aber enttäuscht.
5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Ja ich bin von Ächtung betroffen. Meine Tante und meinen Onkel habe ich seit meinem Ausschluss nicht mehr gesehen, sie haben den Kontakt komplett eingestellt, obwohl wir sonst immer ein enges Verhältnis hatten.
Alle anderen Familienmitglieder begrenzen den Kontakt auf das Nötigste. Ein normales Familienleben besteht hier nicht mehr.
An dieser Stelle würde ich gerne noch erzählen, dass wir uns als Familie einen Hund angeschafft haben, als ich 14 Jahre alt war. Dieser Hund zog mit mir in meine Wohnung, jedoch war er tagsüber zur Betreuung immer bei meinen Eltern, da ich arbeiten musste. Nachdem ich den Brief geschrieben hatte, dass ich mich selbst ausschließe, war meiner Mutter ihr größtes Problem, wie wir den Hund weiter betreuen können. Nach langen Diskussionen haben wir uns darauf geeinigt, dass der Hund eine Woche bei mir und eine Woche bei meinen Eltern lebt, da niemand darauf verzichten wollte. Ich finde es echt traurig, dass ein Lebewesen, dass vor dem Staat als „Sache“ gilt, in unserer Familie mehr Vorrechte hat als das eigene leibliche Kind.
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Heute bin ich frei und kann mein eigenes Leben führen. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe Freunde und auch die Familie meines Partners, die mich bedingungslos lieben und bei denen ich keine Erwartungen erfüllen muss um dazuzugehören. Diese Personen sind so wertvoll.
Manchmal bin ich etwas traurig, dass ich keine unbeschwerte Kindheit mit Weihnachten, Ostern und allen anderen Festen haben durfte. Ich glaube für Kinder ist so etwas ganz wichtig. Ich habe das Gefühl, als wurde mir meine Kindheit gestohlen.
Sehr oft vermisse ich meine Familie und bin traurig, dass sie mich einfach nicht so lieben können, wie ich bin.
Ängste habe ich eigentlich keine. Manchmal ist da nur so ein beklemmendes Gefühl, wenn ich Leute aus der Versammlung treffe und ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Solche Situationen sind für mich ziemlich unangenehm.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Ich bin froh darüber mit Werten aufgewachsen zu sein. Jedoch bin ich der Meinung, dass man diese Werte seinen Kindern auch ohne Religion vermitteln kann.
Manchmal stelle ich mir die Frage „Warum ich?“ – doch dann denke ich, weil ich stark genug dazu bin, diesen Lebensweg durchzustehen. Ich wäre heute nicht so stark, wenn ich eine andere Vergangenheit gehabt hätte.
Ich bin froh nun ein freies und selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Interessierten: Bitte nehmt euch die Zeit und hinterfragt alles, was euch erzählt wird. Lest Berichte von Aussteigern, auch wenn die Zeugen das als „rotes Tuch“ betrachten. Und wenn ihr trotzdem zu dem Entschluss kommt, dass das die wahre Religion für euch ist, behaltet euch ein paar Freunde in der Welt. Denn irgendwann werden ihr sie brauchen.
Zweifelnde Mitglieder: Baut euch einen Freundeskreis in der Welt auf. Dies macht den Ausstieg leichter.
Und an alle: Niemand kann euch garantieren ob und wie es nach dem Tod weitergeht. Ihr habt derzeit nur dieses EINE Leben, lebt es so gut es geht und verschwendet es nicht. Macht Dinge die euch Freude bereiten und umgebt euch mit Menschen die euch gut tun und euch bedingungslos lieben, deren Liebe nicht an die Liebe zu Jehova geknüpft ist.