ÜberLebensweg Natalie Barth aus der Schweiz

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich wuchs in 3. Generation bei den Zeugen Jehovas auf. Das bedeutet: Bereits meine Grosseltern waren dort Mitglied (bis auf meinen Grossvater väterlicherseits, der jedoch im Alter und kurz vor seinem Tod noch ein Bibelstudium mit den Zeugen begonnen hatte).
Ganz vage erinnere ich mich noch an meine Urgrossmutter, die – wenn mir mein Gedächtnis keinen Streich spielt – ebenfalls eine Zeugin Jehovas war. 
Stark geprägt hat mich ein Teil meiner Verwandtschaft, der besonders aktiv, „theokratisch“ und vor allem in den Augsburger Versammlungen (meiner Heimat) bekannt und angesehen war: Pioniere, Älteste, Vortragsredner oder einfach ganz besonders „vorbildlich“. 
Meine 3 Jahre ältere Cousine war von klein auf mein ganz großes Vorbild. Was sie als „das macht man“ und „das macht man nicht“ deklarierte, war mein Gesetz. Zum Teil wog es mehr, als das, was meine Eltern – die damals doch eher zu den gemässigteren Zeugen Jehovas gehörten – mir sagten. 
Von ihr habe ich gelernt, wie man einen Wachtturm schön bunt anstreicht und am Rand mit Bibelstellen vollkritzelt.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Womit hattest du am meisten zu kämpfen?

Ich habe einerseits Erinnerungen an sehr schöne und andererseits an eher grausame Zeiten.
Bereits als Kind wollte ich mich besonders für Jehova einsetzen und Menschenleben retten. Ich wusste, dass ich mindestens Pionier werden und vielleicht sogar in den Missionarsdienst gehen wollte. Die Jahrbücher, in denen Geschichten über fremde Länder erzählt wurden, gehörten zu meiner Lieblingsliteratur der Zeugen Jehovas. Den Gott Jehova sah ich von klein auf als meinen besten Freund an, dem ich in sehr schlimmen Momenten (die auch schon als Kind Selbstmordgedanken einschlossen) mein ganzes Herz ausschüttete. Da ich bei meinen Eltern nie wirklichen emotionalen Halt oder auch Anerkennung fand, suchte ich das schon sehr früh in der Versammlung, in meiner Beziehung zu Gott und in der Bibel.

Spätestens ab dem Teenageralter fühlte ich mich mehr und mehr innerlich zerrissen, schuldig, hatte Angst Gott zu enttäuschen und seine Anerkennung zu verlieren. Und das nur deswegen, weil ich des Öfteren „unmoralische“ Gedanken und Gefühle hatte. Diese Gefühle und Gedanken versuchte ich durch noch mehr Einsatz, Bibellesen und Beten zu unterdrücken. 

Mit 17 hatte ich meinen ersten „weltlichen“ Freund, was natürlich keiner mitbekommen durfte. Ich führte also ein Doppelleben. Doch bald schon holte mich mein schlechtes Gewissen ein und ich ging zu den Ältesten, um ihnen meine sündigen Eskapaden zu berichten und mein Verhältnis zu Gott wieder in Ordnung zu bringen. Es sollten im Lauf der Jahre bis ich ca. Ende 20 war viele weitere Gespräche und sogar Rechtskommitees folgen, die meine menschliche Würde Stück für Stück unter sich begruben.

Mit 19 Jahren suchte ich mir eine Halbtagsstelle und fing mit dem Allgemeinen Pionierdienst an. Das machte mich eine ganze Zeit lang sehr glücklich, weil ich dachte, ich lebe vollkommen nach dem Sinn des Lebens, den sich Gott für uns ausgedacht hat. Ausserdem brachte mir das innerhalb der Gemeinschaft auch einiges an Anerkennung ein, nach der ich ganz besonders lechzte.
Das Bild von der glücklichen Dienerin Gottes bekam allerdings immer wieder Risse, wenn ich es nicht schaffte, alles zu erfüllen, was von mir erwartet wurde. Die liebe, nette, vorbildliche, zufriedene, zuvorkommende, freundliche, theokratische, ausgeglichene Natalie war halt eigentlich nicht so mein wahres Ich. Zumindest nicht dauernd und nicht hauptsächlich. Da es aber gut ankam und die bescheidene, fleissige Frau „mit stillem und mildem Geist“ auch für Gott anscheinend das Non-Plus-Ultra war, versuchte ich das auch so zu leben.

Im Grunde fühlte ich mich immer ein Stück innerlich in Zwei geteilt oder so, als ob demnächst irgendetwas in mir explodierte. Ich hatte mit Esstörungen und Depressionen zu kämpfen, nahm einige Jahre Psychopharmaka, ging in Therapie und erklärte mir all das damit, dass Satan die Welt beherrscht und uns von Gott wegbringen möchte. Ich wusste, dass ich dieses Leben hier irgendwie überstehen musste, bis Harmagedon und damit endlich das lang ersehnte Paradies, das WIRKLICHE Leben anfangen würde. Dann, und erst dann, würde ich vollständig glücklich und zufrieden sein. Bis dahin galt es, den Kampf zu kämpfen und irgendwie durchzuhalten. 
Dass meine Probleme einen ganz anderen Grund haben könnten, wollte ich viele Jahre lang nicht sehen.


3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Gab es ein ausschlaggebendes Ereignis?

Bis ich tatsächlich ausstieg, war es ein sehr sehr langer Weg über einige Jahre hinweg. Ein kleiner Zweifel hier, ein liebloses Erlebnis dort. Nicht mehr nachvollziehbare, sehr sonderbare Erklärungen zum Leben und zu Lehren der Bibel. Kritische Stimmen innerhalb der Versammlung, durch die ich auch immer mal wieder was über „vertuschten Kindesmissbrauch“ aufschnappte, ebneten so langsam den Weg in die Freiheit.

Eine grosse Müdigkeit, eine zunehmende Lustlosigkeit am Leben und Dingen, die mir früher Spass machten und eine regelrechte emotionale, mentale und körperliche Erschöpfung, die über viele Jahre anhielt und immer hartnäckiger wurde, waren mir im Grunde behilflich, mich letztendlich meinem Leben zu stellen. 

Die chronische Krankheit meines Mannes war irgendwann so schlimm, dass er entschied, nicht mehr in die Versammlung zu gehen. Ich ging allein eine Weile weiter dorthin, aber irgendwann war es mir einfach alles zuviel und ich fand immer mehr Ausreden, warum ich nicht gehen konnte.  Das hatte zur Folge, dass ich der permanenten Gehirnwäsche – wie ich die „Belehrung“ dort heute nenne – nicht mehr ausgesetzt war und Stück für Stück der Druck und die Erschöpfung in mir nachliessen. 

Und irgendwann war ich dann soweit, mich mit dem kritisch auseinanderzusetzen, was ich von klein auf als einzig wahres Weltbild gelehrt bekam: Ich forschte im Internet nach, was andere – vor allem Aussteiger – über die Zeugen Jehovas schreiben und sagen. 
Das war tatsächlich ein Schlüsselerlebnis. Ich war damals in Italien in den Ferien und sass vor meinem Laptop, tippte in Google das Stichwort „Zeugen Jehovas“ ein und las einfach mal alles, was NICHT von den Zeugen selbst dazu zu finden war. Anfangs mit extremem Herzklopfen und dem Gefühl, etwas absolut Verbotenes zu tun. Dann aber konnte ich einfach nicht mehr aufhören zu lesen und las im Grunde 14 Tage lang durch. Ich war wie vom Donner gerührt und hatte das Gefühl, aus einem endlos langen, emotional total erschöpfenden Traum aufzuwachen. 

Offiziell ausgestiegen bin ich dann ein Jahr später, mit einem Brief an die Zeugen Jehovas.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Der Glaube der Zeugen Jehovas, der Glaube an Gott und Jesus, der christliche Glaube an die Bibel – all das war für mich (über-)lebenswichtig und ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie man ohne all das glücklich und zufrieden leben kann. Was im Grunde sehr paradox war, da ich selbst ja trotzdem nicht glücklich und zufrieden war, obwohl ich doch all die schönen Erklärungen, die Hoffnung und die „liebevolle Bruderschaft“ hatte. 
Der Glaube war mein Leben, das was mich ausmachte, meine Identität. 
Wie ich zu zweifeln begonnen hatte, wie eins zum anderen führte, habe ich bereits unter Punkt 4 beschrieben. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja, ich bin von Ächtung betroffen. Meine Schwestern, meine Eltern, meine damaligen (Sandkasten-)Freunde pflegen keinerlei Kontakt mehr zu mir. Ich habe es sogar schriftlich bekommen, von Freunden und Familie: „Wir können erst wieder Kontakt haben, wenn Du zu Jehova und seiner Organisation zurückkehrst.“ Meine Mutter schrieb mir sogar einmal: „Alles was mir nicht guttut, wird aussortiert“ und meinte damit mich, weil ich in ihren Augen „satanische Botschaften“ verbreiten würde. 

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mir geht es heute in vielen Bereichen meines Lebens besser. Ich habe keine Angst mehr vor Satan und den Dämonen oder davor, Gott zu enttäuschen oder seine Anerkennung zu verlieren. Ich habe enorm an Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gewonnen und muss keine lächerlichen Erklärungen mehr schlucken, nur weil diese von irgendeiner angeblichen Autorität, die einen besonderen Draht zu Gott hat, vorgegeben werden. 
Ich muss die Welt und den Sinn dahinter nicht mehr definieren und kann mit der Unsicherheit, dem Nicht-Wissen sehr gut leben.  Ich kann heute alles in Frage stellen, brauche keine Befürchtungen vor Strafe haben, darf mich frei entfalten, muss mich nicht mehr schuldig und mangelhaft fühlen, weil ich angeblich schon als Baby sündig geboren wurde. Ich darf das jetzige Leben als WIRKLICHES Leben bezeichnen und glücklich sein, muss nicht leiden und ein Leben lang ein vom Leben gepeinigtes Opfer spielen. Ich empfinde es als Geschenk, Verantwortung für meine Lebensgestaltung übernehmen zu dürfen und meine Identität nicht mehr von einer Gruppe oder Ideologie abhängig machen zu müssen.

Aber was mich heute immer noch sehr bewegt und ich manchmal als die Hölle auf Erden empfinde, ist der Kontaktabbruch meiner Familie. Ich habe wieder und wieder versucht, das für mich abzuschliessen, zu akzeptieren und voll zu integrieren. Und doch verursacht es in mir von Zeit zu Zeit Gefühle der Wertlosigkeit, weil ich es offensichtlich in ihren Augen nicht wert bin, wenigstens einmal im Jahr nachzufragen, wie es mir geht. Geschweige denn diese menschenverachtende Lehre, die eigene Tochter oder die Schwester zu ächten, wenn sie den Glauben nicht mehr teilen kann, einfach mal in Fragen zu stellen. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Wie gesagt, vieles ist für mich nach dem Ausstieg einfacher, leichter geworden. Sehr viele Ängste habe ich glücklicherweise nicht mehr und mein Leben führe ich weitgehend so, wie ich es mir wünsche. Dennoch gibt es Dinge, die ich manchmal bedauere, gerne anders erlebt hätte oder Erkenntnisse, die ich am liebsten schon früher umgesetzt hätte. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich nicht erst mit 40, sondern schon mit 18 ausgestiegen wäre? 
Diese Vergangenheit gehört aber zu mir, sie ist ein Teil von mir und ich weiss, dass ich sie nicht einfach auslöschen kann. Für mich ist eines klar: Ich habe es mir nicht ausgesucht, dort hineingeboren zu werden, ich war also wirklich ein Opfer dieser Ideologie und Erziehung. Andererseits bin ich heute KEIN Opfer mehr, sondern kann mich dafür entscheiden, die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Ich finde es nicht hilfreich, die Schuld für ein nicht gelebtes Leben immer der Vergangenheit in die Schuhe zu schieben. Ich kann mich jeden Tag, heute, jetzt dafür entscheiden noch etwas aus meinem Leben zu machen, mich weiterzubilden, mich für ganz neue Dinge zu interessieren oder mir auch einfach Hilfe zu suchen, wenn mir meine Psyche einen Strich durch die Rechnung machen möchte.
Es ist wichtig, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, z.B. zu verstehen, wie man dort in der Gruppe manipuliert wurde. Darüber zu trauern, was man verloren hat usw. Aber ich empfinde es als genauso wichtig, diese Vergangenheit irgendwann zu akzeptieren und sich wieder voll auf das Jetzt, den Moment zu konzentrieren und einfach zu LEBEN, statt ständig zu fragen: Warum? Warum ich? Was ist der Sinn?  

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Mein Rat ist: Bevor ich mich irgendeiner Gemeinschaft, einem Glauben, einer Religion, einer Ideologie anschliessen möchte, muss ich mich erst selbst kennen und akzeptieren. Ich muss wissen, was meine Schwächen sind und was meine Stärken. Ich muss mir meiner selbst bewusst sein, mir selbst vertrauen und evtl. vergangene Traumata verstanden und integriert haben. Und es wäre noch ganz hilfreich, sich einmal eingehend mit dem Thema Manipulation auseinanderzusetzen: Wie funktioniert Manipulation, wie habe ich selbst schon manipuliert und wie wurde ich manipuliert (wir tun es nämlich alle mehr oder weniger)? Wie könnte jemand meine Schwächen oder Lebensumstände für seine Zwecke ausnutzen und mich manipulieren?
Sich selbst zu kennen und zu wissen, wie Menschen und menschliches Miteinander funktionieren, ist in meinen Augen der beste Schutz davor, in einer destruktiven Gemeinschaft zu landen oder es nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Naivität und einfach die Augen zuzumachen schützt leider gar nicht und man ist ein gefundenes Fressen für hochmanipulative Gruppen und Menschen.
Es gibt im Internet viele Checklisten, die man wie eine Schablone an die Gemeinschaft / Gruppe, zu der man sich hingezogen fühlt, anlegen kann. Ich finde solche Checklisten, mit denen man eigenverantwortlich prüfen kann, wesentlich hilfreicher, als einfach nur vor bestimmten Gruppen namentlich zu warnen.
Eine solche Checkliste findet man z.B: hier.
Wenn nur ein paar wenige Punkte erfüllt sind, ist das oft bereits ein Warnzeichen. Ich kann mich hier auch selbst überprüfen: Möchte ich diese Checkliste gar nicht durchgehen, habe evtl. Angst davor, was rauskommen könnte? Rät mir jemand aus dieser Gemeinschaft ab, die Gruppe anhand einer solchen Liste zu prüfen? Ist man in dieser Gemeinschaft überhaupt für Kritik und Zweifel offen? 

Und noch etwas, das mir hilft, mich selbst in dieser Situation besser einschätzen zu können:
Aus welchem Grund fühle ich mich überhaupt zu dieser Gruppe von Menschen hingezogen? Was fehlt mir, dass mir diese Gruppe scheinbar geben kann? Suche ich eventuell etwas im Aussen, was ich mir eigentlich nur selbst geben könnte oder laufe ich sogar vor mir selbst davon?

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