Masterarbeit – Kindesmissbrauch bei Jehovas Zeugen

Sexueller Kindesmissbrauch innerhalb der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas:
Inwieweit begünstigt Organisation, Lehre und deren praktische Umsetzung der Gemeinschaft die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen?
Michael Hack, 24. September 2020

Die wissenschaftliche Arbeit stellt zunächst die wichtigsten allgemeinen Kriterien zu sexuellem Kindesmissbrauch klar und behandelt dann Kindesmissbrauch in Institutionen und Berichte über Jehovas Zeugen. Anschließend geht sie detailliert auf Lehre und Organisation bei Jehovas Zeugen ein und stellt die spezifischen Gegebenheiten bei Jehovas Zeugen den allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber.

Zur Masterarbeit geht es hier.

Nachfolgende einige essentielle Zitate aus der Masterarbeit.

Lehre, Organisation, Machtstrukturen und Kontrolle

In der Lehre der Zeugen Jehovas nimmt Jesus direkten Einfluss auf die leitende Körperschaft, die ihm unterstellt ist und gebraucht sie, um der Organisation Anleitung zu geben und wie man sich im täglichen Leben nach biblischen Grundsätzen ausrichten kann.

Die leitende Körperschaft verfügt über direkten Zugriff auf die Zweigbüros in den einzelnen Ländern. Diese Zweigbüros handeln keineswegs autark, sie dienen lediglich als Erweiterung des Einflussbereiches der leitenden Körperschaft und somit auch der Kontrolle.

Unterhalb der Zweigbüros sind die Kreisaufseher angesiedelt, denen jeweils mehrere Versammlungen unterstellt sind. Eine Aufgabe der Kreisaufseher besteht in der Kontrolle der Ältestenschaft sowie der Versammlung. Beispielsweise kontrolliert der Kreisaufseher zu festgelegten Zeiten die Verkündigerberichtskarten, die die Predigttätigkeiten der Mitglieder der jeweiligen Gemeinde protokollieren.

Aufkommende Probleme sollen zunächst versammlungsintern unter den Ältesten behandelt werden und im Anschluss an das Zweigbüro weitergeleitet werden.

An unterster Stelle der Hierarchie der Wachtturm-Gesellschaft befinden sich die einfachen Verkündiger, getaufte Gläubige, die in einer Versammlung beheimatet sind. Sie unterstehen zudem der ständigen Kontrolle der Glaubensbrüder und Glaubensschwestern sowie der oberen hierarchischen Ebenen. „Einen bedeutenden Einfluss auf das Leben des einfachen Verkünders nehmen die Stufen der Hierarchie, insbesondere die Kreisaufseher und die Ältesten. Letztgenannte stehen im direkten Kontakt zu den Gläubigen in den Versammlungen, halten diese sogar zu gegenseitiger Kontrolle an, entscheiden über die Empfehlung für bestimmte Ämter und besitzen mit dem Rechtskomitee ein mächtiges Instrument der Disziplinierung“.

Die Organisation der Wachtturm-Gesellschaft wird beschrieben als streng hierarchisch organisierte Gesellschaft, die über zahlreiche Kontrollmechanismen verfügt. Als Kontrollbeauftragte finden sich die Ämter der Aufseher auf nahezu jeder Hierarchieebene unterhalb der leitenden Körperschaft. Sie beaufsichtigen das Leben der untergeordneten Positionen durch regelmäßige Besuche und Kontrollen.

Das Rechtkomitee dient der Wachtturm-Gesellschaft als zentrales Mittel der Disziplinierung und kann jederzeit durch einen Zusammenschluss von Ältesten gebildet werden. „Die Verhandlungen kommen nicht den Abläufen und Regeln der staatlichen Justiz gleich, sondern fungieren als Mittel der Sanktion und Einschüchterung, das kritische Fragen und Sünden bereits auf der niedrigsten Ebene unterbinden soll.“ Hier bekleidet das Rechtskomitee die Rollen des Ankläger, Richter und Vollstrecker gleichermaßen jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Als maßgebliche Autorität in rechtlichen und öffentlichen Fragen, insbesondere bei Konflikten, erweist sich das Zweigbüro. Es steht mit den Ältesten der Versammlungen in Kontakt und gibt Anweisungen bei bestehenden Problemen, beispielsweise bei Konflikten mit Behörden. „Niemand sollte irgendjemanden vertrauliche Informationen weitergeben, es sei denn, die theokratische Verfahrensweise sieht es so vor oder es gibt dazu eine Anweisung vom Zweigbüro.“

Geständnisse, die von Mitgliedern der Zeugen Jehovas vor einem weltlichen Gericht, beispielsweise auf Anraten eines Anwaltes tätigen, werden seitens der Wachtturm-Gesellschaft nicht anerkannt. Sie erkennt grundsätzlich keine Schuldgeständnisse oder Aussagen von Mitgliedern an, die nicht vor einem Rechtskomitee geäußert wurden. Ausschließlich die Anwendung der Zwei-Zeugen-Regel […] bietet Zeugen Jehovas eine rechtlich legitime Methode, Schuld und Unschuld […] festzustellen.

Fazit zum sexueller Kindesmissbrauch

Anhaltspunkte für sexuellen Kindesmissbrauch in der Gemeinschaft wurden festgestellt. Eindrücke und Erfahrungsberichte, die den Medienberichten entnommen werden konnten, stimmten in mehreren Punkten überein. Der Hauptvorwurf, den Opfer und ehemalige Mitglieder der Wachtturm-Gesellschaft äußerten, lag einstimmig im Umgang der Organisation mit sexuellem Missbrauch insbesondere ausgehen von Gemeindemitgliedern in Machtpositionen, wie beispielsweise Älteste einer Versammlung. Die Aufklärung dieser Verbrechen verlief spärlich. Würdenträger, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben, seien nicht an die staatlichen Ermittlungsbehörden vermittelt worden, Anzeigen sollen bewusst nicht aufgegeben worden sein. Ermöglicht habe dies ein internes rechtliches Verfahren, […] der sogenannten Zwei-Zeugen-Regel. Diese Verfahrensweise mache es laut Medienberichten zur Pflicht eines Klägers, mindestens zwei Zeugen zu benennen, die den Missbrauch bestätigen. Sollte das Opfer nicht über die geforderten Zeugen verfügen, so kann der Missbraucher nicht zur Rechenschaft gezogen werden, falls er den Vorwurf abstreitet. In diesem Falle würden Älteste die Straftat nicht den Behörden melden.

Diese Arbeit konnte aufgrund der Begutachtung von internen Arbeitsanweisungen, die von den Zweigbüros direkt an die Ältestenschaft der Versammlungen ausgehändigt wird, zweifelsfrei die Vorwürfe, die in den Medienberichten geschildert werden, bestätigen. Diese Zwei-Zeugen-Regel ist auch bei aktuellen Rechtskomitees der Ältesten nicht nur gängiges Mittel, sie wird zudem von Seiten der Organisationsleitung als zwingend erforderlich beschrieben. […] Auch im Falle eines Geständnisses des Täters erfolgen keine weiteren rechtlichen Schritte. Lediglich einige wenige Sanktionen werden dem Missbraucher auferlegt, beispielsweise darf er keine Wortmeldungen während der Zusammenkünfte tätigen.

Nicht nur erfahren die Täter keine gerechtfertigte und offizielle, von Ermittlungsbehörden und der Justiz verhängte Strafe, junge Opfer, Kinder und Jugendliche werden mit dem ihr zugestoßenem Verbrechen völlig ungehört und ohne jegliche Unterstützung zurückgelassen. Sie werden in jedem Falle, nach einem Geständnis oder aufgrund mangelnder Zeugen, weiterhin mit dem Täter in Kontakt treten müssen, falls sie in der Versammlung verbleiben.

Wie sich im Laufe der Arbeit herausgestellt hatte, ist jedoch nicht ausschließlich die Zwei-Zeugen-Regel ein Mechanismus, der Missbrauch möglich macht und Missbraucher vor Strafverfolgung schützt. Die Lehren der Wachtturm-Gesellschaft propagieren ein streng konservatives und durch Hierarchien geprägtes Weltbild. Frauen und Kinder gelten nicht als gleichberechtigte Personen. Ihnen wird abverlangt, sich dem Ehemann und Vater zu unterwerfen. Eine Form des partizipativen Zusammenlebens, in der Familie sowie im Beisammensein in Versammlungen, findet sich nicht vor. Die Erziehung von Kindern ist nicht durch Mitbestimmung und Eigenbestimmung in Bezug auf gewünschter Lebensführung geprägt. Vielmehr steht hier die enge Befolgung der Gebote der Wachtturm-Gesellschaft im Vordergrund sowie die Abgrenzung zur verdorbenen Welt.

Sexuelle Vielfalt, eigenbestimmtes Leben, Freundschaften, Liebesbeziehungen und eine adoleszente Ablösung vom Elternhaus werden nicht zugelassen. Im Falle von Regelverstößen drohen Strafen, die offensichtlich auch in Form von körperlichen Gewaltformen vollzogen werden. Vertrauenspersonen dürfen nur innerhalb der Gemeinschaft auserwählt werden, die Chancen auf Hilfestellungen, z.B. in Form von Vertrauenslehrern, Schulsozialarbeit, Vereinstrainer oder engen Freundschaften werden verwehrt. Es erweckt den Eindruck, als wolle die Wachtturm-Gesellschaft in der Öffentlichkeit nicht mit Kindesmissbrauch in Verbindung gebracht werden. Dem Namen Jehovas soll keine Schande bereitet werden. Es kann also gesagt werden, dass mit Hilfe dieser Um- setzung der Lehren der Wachtturm-Gesellschaft, das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein der Kinder und Jugendlichen massiven Schaden nehmen können. Gerade diese Qualitäten, die es in der Erziehung zu stärken gilt, werden seitens der Prävention als Schlüsselkompetenz benannt, um sich wehrfähig gegenüber sexuellen Übergriffen zeigen zu können. Sie verhelfen dem Opfer auch nach einem Missbrauch, das erlebte Verbrechen verarbeiten zu können. Kinder, Jugendliche und Eltern sehen sich, so lässt es sich vermuten, im Kontakt mit Versammlungsältesten als untergeordnete Personen. […]

Die Organisationsstruktur lässt jedoch oppositionelle Haltungen und Kritik nicht zu, sie stellt sie sogar unter Strafe. Formen des Beschwerdemanagements sind innerhalb der Organisation nicht vorhanden und vermutlich auch nicht erwünscht. Somit besteht zudem die Gefahr, dass auch Eltern eines zum Opfer gewordenen Kindes keinerlei Möglichkeiten und Chancen sehen, sich nach dem Missbrauch an eine Vertrauensperson wenden zu können.

Nach der intensiven Auseinandersetzung in Form meiner Bachelor- und Masterarbeit vertrete ich die Meinung, dass aufgrund der Handlungsweisen und Gebote, die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas kein sicherer Ort für das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen darstellt.

Es zeigt sich, dass beispielsweise die Konzepte der Wachtturm-Gesellschaft in Bezug auf sexuellen Kindesmissbrauch nicht auf geografischen Unterschieden beruht. Vielmehr lassen sich unter Berücksichtigung internationaler Vorkommnisse ein identischer und einheitlicher Umgang mit Tätern und Opfern erkennen. Somit kann davon ausgegangen werden, dass dieses Problem auch in deutschen Gemeinden vorherrscht.

Hier fordere ich eine Sensibilisierung der Akteure, die sich in der Kinder- und Jugendarbeit aufhalten, wie z.B. LehrerInnen, Schulsozialarbeit, ErzieherInnen etc. Auch sollte das Thema bezüglich zweifelhafter Glaubensgemeinschaften, Sekten und weiteren religiösen Subkulturen als fester Bestandteil in schulischen Präventionsmaßnahmen wiederfinden, um Aufklärung zu leisten und Hilfestellungen für Betroffene aufzuzeigen und anzubieten.

Weiter sehe ich den deutschen Staat in der Verantwortung, Anhaltspunkten von Verbrechen dieser Art auch in Religionsgemeinschaften zu verfolgen und aufzuklären. Die Möglichkeit, sexuellen Missbrauch intern zu klären, muss zumindest unter staatlicher Überwachung stattfinden. Religionsgemeinschaften und Kirchen unterliegen den rechtlichen Rahmenbedingungen des Staates. Somit muss dafür Sorge getragen werden, dass Straftaten auch nach diesen Maßstäben ermittelt und durch die Justiz verhandelt werden.