ÜberLebensweg – Linda Müller aus Blankenhain

Linda
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen

Ich wurde bei den Zeugen hineingeboren.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich war niemals im Kindergarten und dann gab es praktisch nur Schule, Versammlung und Dienst. Meine Mutter starb sehr früh, da war ich gerade 9 Jahre. Somit war ich auch viel auf mich allein gestellt, da mein Vater arbeitete und meine Schwester eine Lehre begann. Irgendwann heiratete mein Vater erneut und wir zogen um. Ab da wurde alles schlimmer, da ich in der Schule stark gemobbt wurde, aufgrund des Glaubens. Das ging sogar soweit, dass ich körperlich angegangen wurde. 
Ich war somit viel allein bzw. hab mich viel einsam gefühlt und dann auch bald mit Depressionen zu kämpfen gehabt. Dann war da immer noch der Druck, alles andere zu schaffen. Versammlung und regelmäßig in den Dienst zu gehen. Mein Vater ist dazu noch Ältester. Dadurch wurde erst recht von anderen geschaut, was man so macht. Das ganze Leben war wie in einer Blase. Ich habe in einer eigenen Welt gelebt. Außerhalb war alles böse.
Schrecklich war es auch, dass man nie etwas mitmachen durfte. Und kein Geburtstag und Weihnachten hatte. Ich fand es immer so toll, wenn alles so schön geschmückt war. Das hätte ich mir auch so sehr gewünscht. Und dann die Fragen von den Klassenkameraden, was man denn als Geschenk bekommen hat. Ich habe mich einfach so oft unwohl gefühlt. Es war im Nachhinein betrachtet einfach schrecklich. 

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Im Grunde fing alles damit an, dass ich mich mit 17 in jemanden verliebte. Am Anfang war das schlechte Gewissen groß, da ich mit dieser Person auch eine der Todsünden beging. Nämlich Sex vor der Ehe zu haben. Als ich 18 war, bin ich dann von jetzt auf gleich daheim ausgezogen. Und nicht mehr mit in die Versammlung gegangen. 

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Verankert war ich sehr stark. Für mich war das der einzig wahre Glaube und ich habe es all die Jahre nicht in Frage gestellt. Es hat auch einige Jahre, nachdem ich untätig wurde gedauert, bis ich anfing zu zweifeln und austrat. Zuerst habe ich noch an all das geglaubt, bin auch kurzzeitig nochmal für einige Zeit wieder mit zur Versammlung und begann nochmal zu studieren. Erst als ich im Internet recherchierte und auf einige Berichte stieß, begann ich darüber nachzudenken. Vor allem die Seite und das Buch von Oliver Wolschke haben mich dann dazu gebracht, mich intensiver damit zu beschäftigen. Und bald war für mich klar, dass das alles nicht die Wahrheit und der einzig wahre Glauben sein kann. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Also meine Tanten mütterlicher Seite haben mich sofort bei WhatsApp blockiert, als sie es wussten. Mein Vater hat interessanterweise weiterhin Kontakt gehalten. Und vor einer Weile konnte ich meiner Schwester schreiben und diese hat sogar geantwortet. Ansonsten besteht kein großer Kontakt. Auch von allen anderen werde ich gemieden und ignoriert, wenn man doch mal einen Zeugen trifft. Was aber da, wo ich wohne selten ist, da es hier nicht sehr viele gibt.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Mittlerweile geht es mir ganz gut. Depressionen kommen immer mal wieder und bis vor einer Weile hatte ich auch noch ziemlich Ängste, ob nicht doch alles wahr ist. Aber daran glaube ich mittlerweile nicht mehr. Leider hat sich bei mir eine Angststörung entwickelt. Ich habe ständig Angst, dass mir oder meinen Kindern was passiert. Und ich habe ab und an Panikattacken. Außerdem habe ich Angst in komplett dunklen Räumen. Das ist alles geprägt durch die vielen Geschichten von Satan und Dämonen und der Endzeit.
Am schlimmsten ist es für mich, dass ich die ganze Zeit gehofft habe, einmal meine Mama wiederzusehen und jetzt weiß, dass das nie passieren wird. Als ich anfing, nicht mehr daran zu glauben, war es, als wäre sie nochmal gestorben. Das macht mir ab und zu noch zu schaffen. Ich glaube auch mittlerweile nicht mehr an Gott oder die Bibel.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Als Kind habe ich manchmal gedacht, was ich doch für ein Glück haben muss, das gerade ich in die Wahrheit geboren wurde. Jetzt denke ich mir manchmal, warum gerade mir so etwas passieren musste. Aber man kann es nicht ändern, nur das Beste daraus machen.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Bitte, wenn ihr studiert, setzt euch richtig damit auseinander.
Und wenn ihr bereits zweifelt, dann vertraut auch eurem eigenen Bauchgefühl und lasst euch nichts einreden. Ihr habt eure Gründe, warum ihr zweifelt und lasst euch nicht aus Angst, was nach dem Ausstieg kommt, daran hindern. Auch ihr schafft es.