Über einen hilfreichen Umgang mit überwältigenden Gefühlen
Der Ukraine-Krieg triggert wie zuvor schon die Corona-Krise bei vielen ehemaligen Zeugen Jehovas Ängste. Schon kleine Kinder werden bei den Zeugen Jehovas mit verstörenden Bildern und Erzählungen vor der großen Endschlacht Gottes in Harmagedon verängstigt. Besonders in Krisenzeiten kommen bei manchen ehemaligen Zeugen Jehovas diese Angst wieder hoch – zusätzlich zu der Angst, die sie mit vielen Menschen angesichts des Krieges teilen. In dieser Handreichung gibt Birgit Kluge (Heilpraktikerin für Psychotherapie und Beraterin bei JZ Help) Hilfestellungen für einen hilfreichen Umgang mit überwältigenden Gefühlen.
Alle Gefühle sind sinnvoll – auch Angst. Ohne Angst würde ich wahrscheinlich die roten Beeren der Eibe essen, weil sie so lecker aussehen. Oder schnurstracks über die 4-spurige Straße laufen, wenn ich meine Freundin auf der anderen Seite sehe. Oder mein großes Messer einfach irgendwie aus der Schublade fischen – ganz gleich, ob ich nun die Klinge oder den Griff erwische.
Angst wird aktiviert von tief liegenden Gehirnstrukturen (u. a. von der Amygdala), die unser Überleben sichern wollen. Unsere Amygdala prüft ständig, ob irgendwo eine Gefahr ist. Wenn sie den kleinsten Hinweis auf eine Gefahr erkennt, dann startet sie ein Überlebensprogramm. Das Motto ist ab jetzt: Überleben ist wichtiger als Wohlbefinden. Im Einzelnen bedeutet das:
- Das Gehirn fokussiert jetzt ausschließlich auf die Bedrohung.
- Es blendet alle anderen Wahrnehmungen aus (z. B. Freude, Schönes oder Genuss)
- Es aktiviert den ganzen Körper für einen möglichen Kampf oder eine Flucht. Muskeln werden angespannt. Wir empfinden Angst und Stress.
- Wenn das nichts hilft, ist die letzte Lösung Kollaps oder Erstarrung: Wir schaffen gar nichts mehr, fühlen uns allein, depressiv, hoffnungslos.
- Dieses Überlebensprogramm stammt aus einer Zeit, als Gefahren akut und direkt unser Leben bedrohten (wilde Tiere, feindliche Überfälle oder Naturkatastrophen). So etwas passiert heute selten.
Medien und destruktive Gruppen, die den Weltuntergang vorhersagen, nutzen diesen Automatismus unseres Gehirns aber zu ihrem Vorteil aus: Sie wissen, dass unser Gehirn ängstigenden Nachrichten größte Aufmerksamkeit schenken muss. Daher produzieren sie möglichst viel davon, weil es ihnen nutzt (Medien machen damit Geld, destruktive Gruppen bekommen Anhänger). Je mehr solcher Katastrophen-Meldungen wir jedoch konsumieren, desto ängstlicher, gestresster und depressiver werden wir. In diesem Zustand sind wir gar nicht mehr in der Lage, irgendwelche hilfreichen Schritte zu unternehmen, um für unsere eigene Sicherheit zu sorgen.
Wie kannst du dich aus dieser Zwickmühle befreien?
Hier findest du ein paar Vorschläge, wie du dein Gehirn so für dich nutzen kannst, dass es dir dein Leben leichter macht – satt schwerer:
- Just the facts: Nutze den logischen Teil deines Gehirns.
- Prüfe, worüber du Kontrolle hast – und worüber nicht.
- Entscheide dich, nach deinen Werten zu handeln.
- Hilf deinem Körper, sich zu beruhigen.
Just the facts – Nutze den logischen Teil deines Gehirns
Frage dich zuerst: Bin ich im Moment persönlich in akuter Gefahr?
Wenn jetzt relativ sicher bist, dann reagiert deine Amygdala gerade reflexhaft auf ein Überangebot von Schreckensnachrichten. Das hilft dir aber nicht, gute Lösungen zu finden. Daher braucht es bewusste Anstrengungen für einen Ausgleich.
Für diesen Ausgleich hast du viele Möglichkeiten:
- Du kannst bewusst entscheiden, wieviel Zeit du für Katastrophen-Berichte verwenden willst: Wieviel Zeit reicht dir, damit du ausreichend informiert bist – aber nicht überwältigt wirst? Lass nicht deine Amygdala über deinen Nachrichtenkonsum entscheiden. Entscheide mit deinem logischen Verstand.
- Wähle aus, in welcher Form du Nachrichten konsumieren willst: Bewegte Bilder mit Ton sind eindrücklicher als Text. Probiere aus, was dir hilft, ruhig zu bleiben.
- Wähle einen günstigen Zeitpunkt für Nachrichten. Schlechte Nachrichten als erste oder letzte Aktion eines Tages ist in der Regel ungünstig.
- Teile deinen Entschluss, Schreckensnachrichten zu begrenzen auch den wichtigen Menschen in deinem Umfeld mit. Falls sie auf deine Bitte nicht reagieren, solltest du Maßnahme treffen, um dich zu schützen.
- Du kannst auch bewusst nach guten Nachrichten suchen, z. B. unter „Good news“ im Internet.
- Oder du tauschst dich mit Nachbarn und Arbeitskollegen darüber aus, was konkret getan werden kann, um etwas zu verbessern – dabei erfährst du nämlich auch gleich, was schon alles getan wird. Das ändert die Perspektive.
- Oder du schreibst in einem Dankbarkeitstagebuch die schönen Momente deines Tages auf. Schildere deine guten Erlebnisse dabei möglichst lebendig. Dann hast du nach einiger Zeit eine wahre Fundgrube von Wohlfühl-Erlebnissen, die dir an schlechten Tagen wieder Mut machen.
- Wenn deine Amygdala überreagiert, hilft alles, was den Fokus etwas wegbringt von den beängstigenden Nachrichten. Diese werden damit nicht ignoriert – aber dein System kommt wieder in eine gesunde Balance.
Was aber, wenn die alte Angst hochkommt, dass Armageddon jetzt doch kommen könnte?
Da diese Angst aus dem emotionalen Teil deines Gehirns kommt, kann dir logisches Denken helfen. Schreib dazu deine Gedanken auf, damit sie vom Kopf aufs Papier kommen. Hier ein paar Ideen dazu:
- Warum warst du bisher überzeugt, dass Zeugen Jehovas mit Armageddon unrecht haben? Was spricht aus deiner Sicht gegen Armageddon?
- Zeugen Jehovas behaupten, seit 1914 wird alles immer schlimmer. Das sei ein Zeichen des nahenden Endes. Wird wirklich alles immer schlimmer? Google das mal.
- Zeugen Jehovas behaupten, das Ende komme erst, wenn allen Menschen gepredigt worden sei. Problem: In den Ländern, in denen nicht oder kaum gepredigt wird, steigt die Bevölkerungszahl seit Jahren explosionsartig. Was sagt das dann über das Ende aus?
- Weißt du, wann die Leitung der Zeugen Jehovas schon sehr konkret auf Armageddon hingewiesen hat? Recherchiere mal zu den Daten 1914, 1925, 1975 und dem Begriff „Generation 1914“. Was schließt du aus den früheren Voraussagen?
- Im März 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, sagte Stephen Lett, wir leben jetzt „in der Schlussphase der letzten Tage, zweifellos in der Schlussphase der Schlussphase – kurz vor dem letzten Tag der letzten Tage.“ Damals war die Angst der Menschen riesig. Mittlerweile sind 2 Jahre vergangen. Mit vereinten Anstrengungen wurde der Pandemie weitestgehend der Schrecken genommen. Und der von Stephen Lett angesprochene Zeithorizont scheint längst überschritten – ohne dass Armageddon kam. Was schließt du daraus?
- Was könnte deiner Meinung nach der Grund sein, warum die Leitung der Zeugen Jehovas auf Katastrophen fokussiert? Schreib all deine Ideen dazu auf, tausch dich mit anderen Betroffenen aus, oder wende dich an unsere Berater.
Sich selbst Klarheit verschaffen, hilft gegen überbordende Angst.
Prüfe, worüber du Kontrolle hast – und worüber nicht.
Das ist meine absolute Lieblingsaktion: Mach dir klar, worauf du Einfluss hast.
Lass uns das mal am Beispiel „Krieg in der Ukraine“ ausprobieren.
Dazu brauchst du ein Blatt Papier, das du in zwei Spalten teilst
- 1. Spalte: Schreib alles auf, worüber du keine Kontrolle hast, z. B.
- was Putin tut oder sagt
- was in den Nachrichten kommt
- was die Zeugen Jehovas dazu sagen, z. B. „Armageddon ist nahe.“
- die Energiepreise
- 2. Spalte: Schreib alles auf, worüber du Kontrolle hast (und hier wird es interessant):
- wieviel Nachrichten ich höre/sehe
- Leute, die mir Angst machen, auf WhatsApp blockieren
- eine Balance mit erfreulichen Dingen im Alltag schaffen
- Geflüchteten helfen
- Geld spenden
- politisch Einfluss nehmen, z. B. durch Proteste
- meinen Energieverbrauch senken
- Gespräche in eine andere Richtung lenken
- Mich um die Menschen kümmern, die mir wichtig sind
- Meinen Körper gut behandeln, damit ich mit ihm etwas tun kann
Das sind alles nur Beispiele, die mir eingefallen sind. Jetzt bist du dran:
Schreibe deine eigene Liste von Dingen, auf die du Einfluss hast.
Entscheide dich, nach deinen Werten zu handeln
Unsere Amygdala, die Medien und die Zeugen Jehovas werden deine Aufmerksamkeit immer wieder in Richtung Katastrophenmeldungen lenken. Das ist nicht zu ändern. Wenn du das merkst, kannst du bewusst etwas unternehmen. Frage dich:
- Worum geht es in meinem Leben eigentlich?
- Was ist mir wichtig? Meine Familie? Freunde? Meine eigene Entwicklung? Lernen? Ein kreatives oder soziales Projekt? Oder ganz etwas anderes?
- Was sind meine wichtigsten Werte?
- Stell dir vor, du sitzt irgendwann mit 80 Jahren in einem gemütlichen Sessel und erzählst deinen Lieben von deinem Leben. Was willst du dann erzählen?
- Welchen kleinen Schritt in diese Richtung kannst du jetzt tun?
Richte deine Aufmerksamkeit immer wieder darauf, was dir wichtig ist – und nutze deine Zeit dafür, statt in Grübeleien zu versinken. Mach kleine Schritte, die sich an deinen Werten orientieren.
Hilf deinem Körper, sich zu beruhigen.
Weiter oben habe ich erwähnt, dass Angst und Stress deinen Körper beeinflussen. Du atmest schneller und flacher. Dein Herz schlägt schneller und dein Blutdruck steigt. Deine Muskeln spannen sich an – ganz besonders im Bereich Nacken und Rücken. Die Verdauung wird erstmal gestoppt … Dein Alarmzentrum, die Amygdala, hat also Auswirkungen auf deinen Körper.
Umgekehrt ist es aber genauso: Dein Körper kann die Amygdala auch beruhigen. Da Körper und Gehirn so eng zusammenarbeiten, kann ein entspannter Körper dein Gehirn zu dem Schluss kommen lassen: „Wenn der Körper so entspannt ist, muss ja wohl alles in Ordnung sein. Dann kann ich mich jetzt auch beruhigen.“
Was kannst du tun, um deinen Körper zur Beruhigung zu nutzen?
Hier findest du ein paar meiner Favoriten (es gibt natürlich noch viel mehr):
- Vielen hilft bewusstes Atmen. Atme dabei ruhig ein und etwas länger aus. Versuche, in einen gleichmäßigen und weichen Rhythmus zu kommen, bleibe einige Minuten in diesem Rhythmus, bevor du wieder wie gewohnt atmest. Hat sich etwas verändert?
- Achtsame Bewegung oder Berührung kann auch helfen: Yoga, Tai chi, Qi gong, Massage, Umarmungen, ein warmes Bad, ein Tier streicheln …
- Es hilft, wenn wir physische Unterstützung spüren, z.B. wahrnehmen, wie unsere Füße tatsächlich auf dem Boden stehen, wie uns der Stuhl trägt, auf dem wir sitzen, oder wie eine Stuhllehne unseren Rücken stützt. Solche Übungen findest du auf YouTube unter den Begriffen „Grounding“ oder „Erdung“.
- Eine andere Übung zur Selbstberuhigung nutzt all unsere Sinneskanäle. Sie ist unter dem Begriff „5-4-3-2-1 Übung“ zu finden. Der beruhigende Effekt all dieser Körperübungen wird durch Wiederholung verstärkt.
- Natur ist für viele besonders beruhigend – ganz gleich ob am Wasser, im Wald, am Strand, in den Bergen oder ganz woanders. Was wirkt auf dich besonders ausgleichend?
- Es gibt Meditationen und Musik, die entspannend wirken. Du findest z. B. auf YouTube eine Menge davon. Ob es dich beruhigt, hängt viel von deinen eigenen Erfahrungen ab (z.B.: Erinnert es dich an schöne oder negative Erlebnisse? Empfindest du es als manipulativ? Kommt dir irgendwas „komisch“ vor? Hast du das Gefühl, die Kontrolle über dich zu behalten? Magst du die Stimme oder den Klang? Welche Gedanken gehen dir dabei durch den Kopf?) Probier einfach aus, was sich für dich stimmig anhört – und nimm dein Bauchgefühl ernst.
- Natürlich hilft uns auch alles, was unserem Körper sowieso guttut: genug Schlaf, genug Wasser trinken, frisches Obst, Gemüse, wenig Zucker und stark verarbeitete Lebensmittel … Dazu fällt dir bestimmt eine ganze Menge ein.
Du hast hier einige Überlegungen und Tipps rund um das Thema „Angst“ gelesen.
Nimm dir jetzt noch einen Augenblick Zeit, um selbst aktiv zu werden.
- Was war für dich am nützlichsten?
- Was willst du ausprobieren?
- Wann machst du das?
Ich wünsche dir viel Erfolg dabei, dein Leben aktiv zu gestalten.
Wenn du Unterstützung oder Begleitung brauchst, kannst du dich gerne an das Beratungsteam von JZ Help wenden. Sie wissen aus eigener Erfahrung und/oder Gesprächen mit AussteigerInnen, dass die Auseinandersetzung mit unserer Angst einfach zur Ablösung von einer destruktiven Gruppe dazu gehört. Je nachdem, wie stark dich deine Angst im Leben einschränkt, kann auch eine therapeutische Begleitung sinnvoll sein.
Weitere Hilfsangebote finden Sie hier.