ÜberLebensweg – Joel Egg aus Duisburg

Joel
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen? 

Ich wurde reingeboren. Meine ganze Familie bestand aus Zeugen Jehovas.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Es war keine leichte Zeit für mich. Die Probleme begannen schon im Kindergarten. Als ZJ sind Geburtstage, Weihnachten und Ostern nicht erlaubt. Die Abgrenzung begann schon dort und zog sich in der Schule weiter. In der Schule bekam ich dann auch das Verbot, meinen Mitschülern davon zu berichten. Meine schulischen Leistungen liessen nach. 
Meine Großmutter hatte schwere Depressionen und war suizidal, genauso wie meine Mutter. Wirkliche Zuneigung als Kind gab es nicht, körperliche Züchtigung war an der Tagesordnung. Durch die religiösen Aktivitäten hatte ich kaum Zeit zu spielen. Scham spielte auch eine große Rolle, das Predigen (Haus-zu-Hausdienst) machte auch bei Schul- und Klassenkameraden nicht Halt, der Kleidungsstil als Kind war schlimm. Es gab noch weitere schwierige Themen, auf die ich hier nicht eingehe.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Als Kind wollte ich freiwillig ins Heim, weil ich es nicht verstand, was da passierte. Klassenkameraden durften Weihnachten oder Ostern feiern, nur ich nicht. Die ständigen Suizidversuche meiner Mutter brachten mich auch immer mehr zum Nachdenken. Zudem gab es damals eine Aussage, wo es bei mir Klick machte. Es ging dabei um die Verweigerung von Bluttransfusionen. Diese sollten wir als einzelner ablehnen, falls es zu einem Unfall oder Ähnlichem kommen sollte. Von der Organisation könne das aber nicht so nach außen kommuniziert werden (ca. 1997). Desweitern wollte ich ein freieres Leben. Mein Leben bestand aus dem Vorbereiten der Zusammenkünfte, Zusammenkünfte, Predigtdienst…

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Ich war fester Bestandteil der Versammlung in Moers. Ich wurde dazu gedrängt, mich taufen zu lassen. Es war Aufmerksamkeit, die ich dadurch bekam. In der Versammlung hatte ich auch feste Dienste: Mikrofon- Reinigungs-, Zeitschriftendienst. Mit 16 Jahren wurde mir die Gemeinschaft entzogen.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja, das bin ich. Diese Entscheidung war hart, aber es war mir bewusst, was passiert. Ich habe alles, was mir wichtig war, verloren. Ich war von jetzt auf gleich alleine. Es war die Hölle. Ich wurde zuhause nur geduldet, es wurde nur das Nötigste mit mir geredet. Der Kontakt zu meinen Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, Großeltern, Glaubensbrüdern/-schwestern brach ab. Ich flüchtete in die Arbeitswelt, wo ich Anerkennung fand, was ich vorher nie kennenlernen durfte. Ein paar Jahre später bekam ich aber selbst Depressionen und hatte eine schwere psychische Krise.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Es ging mir über eine lange Zeit sehr schlecht. Ich entwickelte eine Substanzabhängigkeit, war verzweifelt und suizidal. Aus diesem Grund war ich lange in Therapie und habe auch von Coaching profitiert. Mit 39 Jahren kann ich sagen, dass es mir richtig gut geht. Natürlich gibt es immer noch Punkte, die mich triggern, aber es ist ok.
Feiertage wie Weihnachten, Ostern oder Geburtstage haben für mich immer noch keine Bedeutung. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Es war eine schwere Zeit, die ich niemanden wünsche. Ich bin so froh, dass es Menschen gab, die mich so aufgenommen haben, wie ich war. Diese Menschen sind meine Familie geworden, weil ich dort ein normales Leben kennenlernen durfte und dafür bin ich dankbar.
Ich bin froh, dass ich noch hier sein darf und dass ich jetzt die Stärke habe, diese Fragen zu beantworten. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Ich habe erstens nicht das Recht, irgendjemandem einen Rat zu geben. Es ist für mich verständlich, warum sie interessiert sind. Die Fragen, die ich mitgeben möchte sind relativ einfach: 
Was möchtest du wirklich in deinem Leben? 
Möchtest du Freiheit oder ein eingeschränktes Leben? 
Möchtest du dein Leben selber führen oder geführt werden? 
Wenn du geführt werden möchtest, möchtest du mit Angst geführt werden?

Es hat seinen Grund, warum wir geächtet werden, aber es liegt nicht daran, dass wir was verbrochen haben. Ich bin nur dem Ruf meines Herzens gefolgt: Leben in Freiheit!

Mehr zu Joel erfährst du auch bei seinem Interview mit Jason Wittmann auf dessen YouTube-Kanal Traum[a]welt.
Viel Freude beim Zusehen und -hören!