ÜberLebenswege – Jennifer G. aus Oldenburg

Jennifer
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Meine Eltern sind im Haus-zu-Haus-Dienst “gefunden” worden als ich etwa 5 Jahre alt war und haben sich dann ein bis zwei Jahre später taufen lassen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt? 

Ich hatte keine furchtbare Kindheit oder so. Was mir zu schaffen gemacht hat, war das stetige Gefühl, anders zu sein als meine Klassenkameraden. Meine Eltern haben gefühlt immer abfällig über andersgläubige Menschen gesprochen, meine Mutter hat einen richtigen Hass auf “Weltmenschen” entwickelt, ein elitäres Denken wie ich heute finde. Immer von Gott beobachtet zu sein, selbst in meinen Gedanken, daraus entwickelte sich auch eine sexuelle Störung, vor allem in Bezug auf meinen Körper. Ich hatte große Angst vor Dämonen, meine Eltern hatten sogar mal den “Verdacht” ich könne besessen sein, woraufhin sie mir Bibeltexte über Dämonenbesessenheit vorgelesen haben, was mich so unter Druck gesetzt hat, dass ich mich auf den Boden geschmissen habe und mit den Füssen und Händen auf den Boden geschlagen habe, was sie erst recht bestätigt hat, das mit mir was nicht stimmt.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist? 

Es war ein schleichender Prozess. Eine durch die Umstände entstandene, unglückliche und sehr traurige Ehe (für uns beide), große Zweifel an dem, was ich mal gelernt habe und vor allem an diesem elitären Denken, gipfelnd in einer schweren Depression und Borderline-Erkrankung. Eines Tages wusste ich, entweder stirbst du jetzt bald durch Selbstmord oder du nimmst dein Leben noch einmal in die Hand und drehst das Ruder für dich und deine Kinder nochmal um 180 Grad.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

In der Kindheit stark, habe mich mit 11 Jahren taufen lassen, habe mit 18 meinen ersten Mann und große Liebe geheiratet, welcher leider innerhalb unserer Ehe schwer erkrankte. Von da an galten wir als glaubensschwach und wurden quasi so mitdurchgeschleift. Natürlich hat man versucht, uns glaubenstechnisch zu helfen, wir hatten häufig Hirtenbesuche etc. Als man uns dann allerdings vermitteln wollte, dass unsere psychischen Probleme gar keine wären, sondern wir von Dämonen gequält werden, weil wir Filme wie “Der Herr der Ringe” etc besessen haben, fing ich an deutlich kritischer zu denken und zu hinterfragen. So kam eins zum anderen.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja! Verloren haben meine Kinder und ich meine Eltern, meine Geschwister und alle meine Freunde. Wir haben lange darunter gelitten, vor allem für meinen Sohn war es ein schlimmer Prozess. Sowohl mein Sohn, als auch ich haben lange Therapie gemacht um unsere Vergangenheit zu verarbeiten und unser Leben neu zu ordnen. Wenn wir heute jemandem von früher zufällig über den Weg laufen, werden wir komplett ignoriert. Meine Mutter läuft in Geschäften, wenn wir sie da mal sehen, vor mir weg.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen? 

Ich bin seit über 5 Jahren jetzt raus und es geht mir nach erfolgreicher Therapie relativ gut. Ich habe meine Borderline-Störung gut im Griff. Trotzdem fühle ich mich innerlich oft unsicher, vor allem was Emotionen und Gefühle betrifft. Ich fühle mich oft getrieben und kann Ruhe und Stillstand nicht gut ertragen. Ich habe noch kein wirkliches Vertrauen zu mir selbst und verurteile mich häufig selbst für die Art, wie ich sein möchte und was ich machen möchte. Dazu kommt die Angst, nie genug zu sein, nicht liebenswert zu sein. Wie ein Baum quasi ohne Wurzeln, äusserlich absolut stark und schön, innerlich allerdings noch nicht komplett gefestigt, aber die Wurzeln bilden sich immer mehr aus.  🙂

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Ich wäre lieber “normal” aufgewachsen, allerdings wäre ich dann evtl. nicht der Mensch, der ich heute bin, hätte evtl. weniger Stärke entwickelt, denn die braucht es, um aus diesem Konstrukt auszubrechen und sein Leben neu zu ordnen. Mein Fazit ist, dass ich froh bin, dass meine Kinder inzwischen normal aufwachsen dürfen, frei von Ängsten vor Dämonen etc. und ich Ihnen eine Kindheit bei den ZJ zumindest zum Teil ersparen konnte, denn nun haben sie die Möglichkeit, sich frei zu entfalten und Wurzeln auszubilden und einen gefestigten Charakter zu entwickeln.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Hinterfragen! Nicht blindlings alles glauben, was einem erzählt wird und vor allem mal Vergleiche zu anderen sektenartigen Glaubensrichtungen zu ziehen, dort werden sie extrem viele Parallelen und gleiche Denkweisen entdecken. Alle Gruppierungen glauben, den einzig wahren Glauben zu haben und das kann ja so nicht stimmen.