ÜberLebenswege – Erik H. aus Berlin

Erik
1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Meine Mutter hatte bereits in ihrer Jugend mit den Zeugen Jehovas das sogenannte Bibelstudium durchgeführt und sich taufen lassen, doch als junge Erwachsene wandte sie sich davon ab. Einige Jahre später nahm sie wieder Kontakt zu den Zeugen Jehovas auf. In diesem Zusammenhang wurde auch mit mir, ich muss ungefähr acht Jahre alt gewesen sein, dieses Bibelstudium durchgeführt und ich besuchte die in der Woche mehrmals stattfindenden Gottesdienste fortan regelmäßig. Mit 14 Jahren ließ ich mich taufen.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Über einen langen Zeitraum durchaus positiv: die klaren Strukturen, die eindeutigen Antworten auf die Fragen des Lebens, die Gemeinschaft, zu wissen was richtig und falsch, sowie gut und böse sei – all das gab meinem Leben Sicherheit und Halt. Die Religionsausübung hat mein Leben bestimmt und in den Aufgaben, die man als männliches Mitglied übernehmen kann, bin ich voll aufgegangen und wurde dementsprechend früh gefördert. Die Anerkennung meiner Leistung hat mich motiviert und mir Bestätigung gegeben. Da ich von all dem sehr überzeugt war, hatte ich ein entsprechend sicheres Auftreten und somit beispielsweise in der Schule nie mit Mobbing oder Sonstigem Probleme.
Andererseits habe ich immer einen hohen Leistungsdruck gespürt und bin an den immensen Anforderungen fast verzweifelt. Obwohl ich mich stark engagierte, hatte ich oft mit Schuldgefühlen, einem schlechten Gewissen und dem Gefühl, als Mensch nicht zu genügen, zu kämpfen.
Auch der ständige Verzicht, sei es bezogen auf das Ausüben diverser Hobbies, dem nur sehr eingeschränkt möglichen Kontakt mit Klassenkameraden, der ersten Liebe, die Berufswahl, etc. – jeder noch so kleine Lebensbereich ist durch die Vorgaben der Zeugen Jehovas reglementiert. Das Entdecken der eigenen Stärken und Interessen, die gesunde Entwicklung zu einem eigenständigen Individuum, das Ausschöpfen der eigenen Potentiale, kurz um: die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit – all das ist in diesem starren Rahmen nicht möglich.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Einerseits waren da die immer wieder aufkommenden Zweifel an manchen Lehren der Zeugen Jehovas. Andererseits lernte ich während der Zeit, in der ich das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erwarb, immer mehr das kritische Denken, nicht alles schwarz-weiß zu sehen und toleranter gegenüber anderen Meinungen und Lebensentwürfen zu sein. Nach und nach konnte ich mich nicht mehr als Zeuge Jehovas identifizieren. Ich zog die Konsequenzen und trat in einem ersten Schritt von all meinen Dienstämtern und Aufgaben zurück und führte auch den Predigtdienst nicht mehr durch. Als ich mir in einem weiteren Schritt erlaubte, mich über die Regel hinwegzusetzen, unabhängig von den internen Publikationen über Fragen, die meine Zweifel betrafen zu recherchieren, stellte ich schnell fest, wie viele Auslegungen der Zeugen Jehovas unlogisch und schlichtweg falsch sind. Mein Glaubenskonstrukt fiel innerhalb weniger Tage bis auf das Fundament in sich zusammen. Als ich schließlich auf die „Australian Royal Commission“ aufmerksam wurde (dabei geht es darum, wie die Organisation der Zeugen Jehovas mit Missbrauchsfällen innerhalb der Gemeinden umgeht), war ich schockiert und konnte es nicht mit mir vereinbaren, weiterhin Teil dieser Organisation zu sein und legte meinen Austritt schriftlich dar. 

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Einige Punkte habe ich schon anklingen lassen. 
Ich war ein sehr eifriger und vorbildlicher Zeuge Jehovas. Aufgrund der von klein auf erhaltenen Indoktrination sollte es mein Lebenszweck sein, wirklich alles der Religionsausübung unterzuordnen. Daher entschloss ich mich als junger Erwachsener unter anderem für mehr als drei Jahre in der Deutschlandzentrale der Zeugen Jehovas für ein nur kleines Taschengeld in Vollzeit zu arbeiten. Ein Leben mit anderen Prioritäten war für mich persönlich nicht denkbar und gleichzeitig verurteilte ich innerlich die Menschen, die keine Zeugen Jehovas waren.
Aus der Verblendung führten mich einerseits die neuen Eindrücke während der Zeit, in der ich das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erlangte. Andererseits gab ich mich mit den einfachen Antworten, bzw. Ausflüchten bezüglich meiner Fragen und Zweifel nicht mehr zufrieden. Ich hatte auch nicht mehr akzeptiert, dass ich selbst das Problem sei und daher demütiger werden solle, mich intensiver mit der Bibel und den Publikationen der Zeugen Jehovas auseinandersetzen müsse und geduldiger darauf warten solle, dass Gott zu seiner Zeit Unklares offenbaren werde.
Zudem wollte ich nach dem Abitur studieren und datete außerdem eine Frau, die keine Zeugin Jehovas ist, was nicht gerne gesehen ist. Die Entscheidungen, wie ich mein Leben weiter gestalten möchte, wollte ich nicht mehr von den mir nun unsinnig erscheinenden Regeln der Zeugen Jehovas vorschreiben lassen. Ich hatte das Leben eines Zeugen Jehovas gut 20 Jahre lang gelebt, war währenddessen selten zufrieden noch glücklich, sondern dem Ganzen vielmehr überdrüssig geworden. 

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Ja, fast meine gesamte Familie und so gut wie alle meine Freunde haben den Kontakt zu mir vollständig abgebrochen. Freunde, mit denen ich seit der Kindheit aufgewachsen bin plötzlich nicht mehr im Leben zu haben ist wirklich schade, vor allem, weil unsere Freundschaft aus meiner Perspektive viel mehr als nur die gemeinsame Religion ausmachte und daher auch ohne diesen Teil Bestand haben könnte, wenn es nicht durch die Regeln der Zeugen Jehovas untersagt wäre.
Die Auswirkungen sind, dass ich meine verlorenen Freunde vermisse und ich mir ein neues soziales Umfeld aufbauen musste. Das fiel mir nicht ganz so leicht, da ich schüchtern und durch die Prägung der Zeugen Jehovas sowohl sehr misstrauisch und skeptisch, sowie auch immer wieder gegen Vorverurteilungen in meinem Kopf ankämpfen musste, wenn ich basierend auf meinem damaligen Verständnis auf „böse und durch und durch verdorbene Weltmenschen“ traf, die heute aber potentielle Freunde sein könnten. Dieser Prozess des Umdenkens dauerte zwar etwas und die Pandemiebeschränkungen haben es im Allgemeinen nicht leicht gemacht neue Menschen kennen zu lernen, aber alles in allem ist es mir doch gut möglich gewesen neue Freundschaften aufzubauen, wofür ich den Menschen, denen ich mich anvertrauen durfte, auch wirklich dankbar bin.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Im Großen und Ganzen geht es mir, seitdem ich die Zeugen Jehovas vor einem Jahr verlassen habe, wirklich gut. Es macht mir Freude, mein Leben nun aktiv gestalten zu können, mich selbst besser kennenzulernen und zu verstehen, mir bei Herausforderungen eigenständig Lösungswege erarbeiten zu können, ohne dauernd überlegen zu müssen, wer meine Entscheidungen wie beurteilen könnte und ich außerdem nicht passiv auf Jehova warten muss, bis er etwas regeln sollte. Mich zu dem Menschen entfalten zu können, der ich sein möchte und nun auch sein darf ist wie ein zweites Leben, das ich geschenkt bekommen habe.
Trotzdem bemerke ich ab und zu, dass das geringe Selbstwertgefühl, das Muster der erlernten Hilfslosigkeit und andere subtile Unsicherheiten in Verbindung mit den neuen Möglichkeiten und Freiheiten der Lebensgestaltung, sowie eine übertriebene Reflexion meiner Person und Umstände mir mein Leben hin und wieder schwerer machen und mich in meiner Entwicklung bremsen, aber ich arbeite daran und fokussiere mich im Wesentlichen auf all die positiven Aspekte, die ich neu hinzu gewinnen konnte und kann.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Selbst wenn ich meinen gelebten Jahren als Zeuge Jehovas durchaus positive Erinnerungen und Aspekte abgewinnen kann, wurden mir letztlich die besten Jahre meines Lebens geraubt und mir zum Beispiel im Hinblick auf meine berufliche Entwicklung einiges verbaut. Jedoch weiß ich, dass ich ein Mensch mit einer besonderen Erfahrung und Geschichte bin, die mich auszeichnet und zu dem macht, der ich heute bin. Auch wenn das etwas abgedroschen klingt. Aber diese Basis ist die Grundlage, auf der ich mein weiteres, nun selbstbestimmtes Leben aufbauen möchte. Wie ich diesen Weg mit all seinen kognitiven Dissonanzen, seiner emotionalen Zerrissenheit, aufgrund derer ich für eine kurze Phase suizidal war, und sonstigen Herausforderungen gemeistert habe, veranlasst mich, mir selbst zu gratulieren und mir auf die Schultern zu klopfen 🙂 Ja, ich bin wirklich stolz auf mich und mir durch diese Erfahrung bewusst, wie stark ich tatsächlich bin. Diese Energie möchte ich gerne nutzen, um anderen bei Bedarf eine Hilfestellung sein zu können.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Bildung!
Man kann ein Denksystem nur sehr schwer analysieren, wenn man von diesem quasi Bestandteil ist oder man es entweder gewohnt ist, bzw. es gestattet ist, nur in diesem einen Denksystem, also in vorgestampften Pfaden und festgesteckten Rahmen zu denken. Daher: raus aus der Käseglocke und über den Tellerrand sehen!
Das kann im Allgemeinen bedeuten, sich mit Argumentationstechniken und dem kritischen Denken zu beschäftigen, um beispielseiweise Strohmänner oder Zirkelschlüsse zu erkennen. Eine gesunde Skepsis vor Allgemeinheits- und Absolutheitsansprüchen walten zu lassen gehört ebenso dazu, wie das stetige Stellen von simplen Fragen wie: Woher weiß er/sie das? Kann es nicht auch anders sein? 
Im Speziellen rate ich zu einer explizit multiperspektivischen und kritischen Auseinandersetzung mit den Auslegungen und Praktiken der Zeugen Jehovas. Ein guter Ausgangspunkt dafür können Internetseiten wie Jwinfo.de und JWfacts.com, Kanäle auf YouTube wie der von Lloyd Evans und ExJw Fifth sowie Bücher wie Oliver Wolschke: Jehovas GefängnisAmber Scorah: Leaving the Witness, und und und sein. Mittlerweile gibt es glücklicherweise sehr viel gutes Material, um sich ein umfassendes und faktenbasiertes Bild über theoretische Inhalte und Lebenswirklichkeiten der Zeugen Jehovas machen zu können, das weit von den Diskreditierungen seitens der JW-Organisation entfernt ist.