Übersetzung durch JZ Help
Bericht bei Femina vom 29. April 2022
Jenny Küttim erlebte bei den Zeugen Jehovas eine Gehirnwäsche – und schaffte es, die Sekte zu verlassen
Im Alter von sechs Jahren war Jenny Küttim bei den Zeugen Jehovas so verankert, dass sie an Türen klopfte, um neue Mitglieder zu werben. Nachdem sie ins Krankenhaus musste, begann sie in ihren frühen Teenagerjahren ihren Ausstieg aus der Sekte – und jetzt veröffentlicht die Enthüllungsjournalistin ein Buch über ihr Aufwachsen und die Geheimnisse, die die Zeugen Jehovas für sich behalten wollen. „Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich, wie klein und gehirngewaschen ich war. Ich kann nicht anders, als mich zu wundern, weshalb keine Erwachsenen um mich herum reagiert haben“, sagt sie gegenüber Femina.
Text AINO OXBLOD | Foto PRESS, PRIVAT.
Im Frühjahr 2017 bekommt Jenny Küttim eine anonyme Sendung zugeschickt. Zusammen mit Hannes Råstam war sie bereits an der Aufdeckung der Skandale um den Fall Thomas Quick beteiligt und ist eine bekannte Investigativ-Journalistin beim Schwedischen Fernsehen. Doch der Inhalt der Kiste hat eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit und wird sie nicht nur dazu veranlassen, ein Buch zu schreiben – er wird sie dazu bringen, die Tür zu ihrer Kindheit zu aufzustoßen, eine Tür, die sie vor langer Zeit geschlossen hat.
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Als sechstes Kind einer neunköpfigen Geschwisterschar wächst Jenny bei den Zeugen Jehovas auf, und die Weltanschauung der strengen Sekte ist die einzige Wahrheit. Von klein auf ist sie von ihrem Glauben erfüllt und wird mit nur sechs Jahren ungetaufte Verkündigerin – eine der jüngsten im Land. Die Zeugen Jehovas taufen erst im Erwachsenenalter, aber als Verkündigerin beginnt sie an Türen zu klopfen, um die Botschaft der Kirche zu verbreiten und Mitglieder zu werben. (Anmerkung von JZ Help: Die Taufe findet meist im Jugendalter statt, es gibt jedoch die Tendenz immer jüngere Kinder zu taufen.)
Wenn die Journalistin heute über ihre Kindheit nachdenkt, ist sie verwundert, dass keine Erwachsenen außerhalb der Sekte auf ihr Verhalten reagiert haben.
– Wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich sehen, wie klein und gehirngewaschen ich war. Ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch, dass kein Erwachsener in meiner Nähe reagiert hat. Ich war ein seltsames Kind. Deshalb wollte ich ein Buch schreiben, damit Lehrkräfte und Sozialarbeiter*innen es lesen und eine Vorstellung davon bekommen können. Man könnte denken: „Es ist in Ordnung, dass sie seltsam sind, sie sind Zeugen Jehovas“, es gibt den Aspekt der Religionsfreiheit und man wagt es nicht, sich einzumischen, denn jeder hat das Recht zu glauben. Als ich als Kind anfing, die Sonne schwarz anzumalen, weil wir in der Schule die nordischen Götter malen sollten, da hätte jemand reagieren müssen.
Die Angst in der Familie
Nicht nur Jennys Einbindung in eine Sekte macht sie zu einem gefährdeten Kind – in den vier Wänden ihres Zuhauses leben sie und ihre Geschwister in Angst vor ihrem alkoholkranken und zunehmend gewalttätigen Vater. Jenny hat ihr ganzes Leben lang gelernt, dass die Liebe zu Gott wichtiger ist als die Liebe zur Familie, aber wo ist Gott, wenn Jenny von ihrem Vater sexuell missbraucht wird, oder wenn ihre ältere Schwester damit bedroht wird, in den Fluss geworfen zu werden, weil sie versucht hat, den Missbrauch innerhalb der Familie gegenüber Außenstehenden zu offenbaren?
Trotz der Schläge und Drohungen gegen ihr Leben bleibt ihre ältere Schwester standhaft, und der Fall wird schließlich vor Gericht gebracht. Der Vater wird verurteilt, aber wegen mehrerer früherer Selbstmordversuche wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt und eine psychiatrische Behandlung anstelle einer Haftstrafe angeordnet. Noomi wird in einer Pflegefamilie untergebracht, während die anderen Kinder zu Hause bei ihrem immer noch gewalttätigen Vater bleiben.
– Heute weiß ich, wie wichtig es war, dass meine Schwester weggegangen ist und den Vorfall bei der Polizei angezeigt hat, obwohl ich das als Kind abscheulich fand. Ich dachte, sie würde unser Leben ruinieren. Sie war so unglaublich mutig“, sagt Jenny Küttim.
Es wird einige Zeit dauern, bis die Entscheidungen ihrer Schwester für Jenny einen Sinn ergeben. Im Alter von 10 oder 11 Jahren wird sie ins Krankenhaus eingeliefert – sie hat Probleme beim Wasserlassen, aber die Ärzt*innen können keine Erklärung dafür finden. Da sie so viele Geschwister hat, um die sich ihre Eltern kümmern müssen, kommen Jennys Eltern nur ins Krankenhaus, wenn Arzttermine anstehen. Dies ist der Beginn ihrer Reise aus der Sekte heraus – zum ersten Mal in ihrem Leben verbringt sie viel Zeit mit Menschen, die nicht den Zeugen Jehovas angehören.
– Es war das erste Mal, dass ich für längere Zeit von ihnen und von der Literatur der Organisation getrennt war. Ich war gezwungen, ständig mit normalen Menschen zu sprechen, und war in gewisser Weise frei. Ich durfte tun und lassen, was ich wollte.
Die Entdeckung der Welt außerhalb der Zeugen Jehovas
Im Krankenhaus beginnt Jenny, Bücher zu lesen, die nicht zur Literatur der Jehovas Zeugen gehören, und eine neue Welt tut sich ihr auf. Bei der Lektüre des Tagebuchs von Anne Frank wird ihr klar, dass es beim Holocaust nicht in erster Linie um die Zeugen Jehovas ging, wie man ihr in ihrer Kindheit erzählt hatte.
– Man hatte mir gesagt, dass wir die Wichtigen sind und dass Gott eingreift, um uns zu retten, dass Hitler deshalb gestorben ist. Sie hatten den gesamten Holocaust in eine sektiererische Dramaturgie gepackt. So war es auch bei der Evolutionstheorie – man lebt in einer pseudowissenschaftlichen Blase.
Fakten über die Zeugen Jehovas
Die Zeugen Jehovas wurden in den 1870er Jahren in den Vereinigten Staaten gegründet und haben ihren Hauptsitz in New York. Die Bewegung, die 1995 nach schwedischem Recht als Sekte eingestuft wurde, hat weltweit 8,7 Millionen Mitglieder, davon etwa 22.000 in Schweden.
Die Sekte glaubt, dass die Erde und die Menschheit, wie wir sie kennen, zerstört werden und dass nur die Zeugen Jehovas in Gottes Paradies leben werden. Man wird erst dann wirklich Mitglied, wenn man getauft worden ist. Menschen, die sich nach ihrer Taufe dafür entscheiden, die Zeugen Jehovas zu verlassen, werden von der Gemeinschaft gemieden, und selbst Familienmitglieder dürfen keinen Kontakt zu Ausgetretenen haben.
Die Mitglieder der Zeugen Jehovas begehen keine Feiertage, die ihrer Meinung nach nicht von der Bibel gestützt werden, und feiern daher keine nationalen Feiertage, Geburtstage, Weihnachten oder Mittsommer. Das Einzige, was sie feiern, ist das Gedächtnismahl zum Gedenken an den Tod von Jesus.
Bei den Zeugen Jehovas ist es verboten, sich an Kriegen zu beteiligen, Abtreibungen vorzunehmen und Bluttransfusionen zu erhalten. Viele Mitglieder tragen daher eine Karte bei sich, aus der hervorgeht, dass sie auf Bluttransfusionen verzichten, selbst wenn dies den Tod bedeutet. Die Organisation versucht auch, Ärzt*innen in alternativen Behandlungsmethoden auszubilden.
Die Zeugen Jehovas veröffentlichen die Zeitschrift Wachtturm in über 210 Sprachen mit einer monatlichen Auflage von 44 Millionen.
Später, als Jenny aus dem Krankenhaus nach Hause zu ihrer zerrütteten Familie kommt, stellt sie der Mutter ein Ultimatum: Wenn sie ihren Mann nicht verlässt, nimmt Jenny ihre kleinen Geschwister und zieht allein aus. Aber sie denkt noch nicht daran, aus der Religion auszutreten, sie will nur der Gewalt und dem Missbrauch entkommen.
Doch erst die Tatsache, dass die Familie von ihrem Vater wegzieht, macht ihr klar, wie sehr die Kirche sie kontrolliert. Als alleinstehende Frau wird Jennys Mutter von den Ältesten beaufsichtigt, und die zerstörerischen Strukturen bleiben bestehen.
– Meine Mutter erlaubte meinem älteren Bruder, uns weiterhin zu schlagen, wie es mein Vater getan hatte, so dass die Strukturen von Ehre und Kontrolle erhalten blieben. Dadurch wurde mir klar, dass ich nicht in der Kirche bleiben konnte. Ich war damals 13 Jahre alt.
Wenn du dich entscheidest, die Zeugen Jehovas zu verlassen, musst du damit rechnen, dass sich die Familie, die in der Sekte bleibt, von dir abwendet – sogar deine Eltern. Da Jenny aber noch nicht getauft war, darf sie zu Hause bleiben und mit ihrer Familie in Kontakt bleiben. Auch ihre ältere Schwester hat Kontakt zu ihrer Mutter, da sie ebenfalls ungetauft war.
Publiziert das Buch, das sie selbst gebraucht hätte
Am 28. April veröffentlichte Jenny Küttim ihr Buch Die Wahrheitsträger, in dem sie sowohl ihr eigenes Aufwachsen als auch größere systemische Probleme innerhalb der Zeugen Jehovas behandelt. Es ist ein Buch, das sie selbst als Kind hätte lesen wollen, sagt sie.
– Hätte ich ein Buch gefunden, das mir eine bessere Sicht auf die geschlossene Umgebung ermöglicht hätte, wäre es mir leichter gefallen, auszusteigen. Die Kinder, die in der Sekte sind, können sich das Buch in der Bibliothek ausleihen. Sie dürfen innerhalb der Organisation nichts lesen und vor allem nichts ansehen. Das Buch hat eine längere Lebensdauer als eine Fernsehdokumentation.
In der Schachtel, die an die „Journalistin Jenny Küttim“ geschickt wurde, befanden sich Hunderte von klassifizierten Schreiben, die vom skandinavischen Büro der Zeugen Jehovas an die Leiter der schwedischen Versammlungen geschickt worden waren. Die Quelle, die die Schreiben verschickte, hatte alle Regeln innerhalb der Zeugen Jehovas gebrochen, damit Jenny die gefährlichen Strukturen innerhalb der Organisation aufdecken konnte. Doch dafür musste die Journalistin mit allem aufräumen, was sie als Kind zu wissen glaubte.
– Mir wurde klar, dass ich in einer Filterblase aufgewachsen war, bevor es Filterblasen gab. Es war sehr schwierig. Ich wurde als Kind indoktriniert und davon beeinflusst, und jetzt musste ich zurückkommen und ihre Lügen überprüfen. Das war sehr schwer für mich.
In Die Wahrheitsträger untersucht Jenny Küttim die Thematik von Kindern, die innerhalb der Sekte sexuell missbraucht werden und ohne Hilfe dastehen, da es bei den Zeugen Jehovas eine „Zwei-Zeugen-Regel“ gibt – Vergehen müssen von zwei Zeugen bezeugt werden, damit die Mitglieder überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden können.
– Ich versuche, die absurde Welt der Zeugen Jehovas anhand der Art und Weise zu erklären, wie diese sexuellen Übergriffe gehandhabt wurden, und zu zeigen, wie gehirngewaschen Menschen werden können, ohne zu hinterfragen. In einem solchen Umfeld hören die Menschen schließlich auf zu denken und befolgen Befehle, das ist meine Schlussfolgerung.
Zeugen von Missbrauch
Für das Buch befragte die Autorin mehr als 200 Personen über ihre eigenen Erfahrungen mit Missbrauch und Gewalt innerhalb der Zeugen Jehovas. 79 Personen bezeugen, als Kinder sexuell missbraucht worden zu sein, und 40 von ihnen waren Opfer desselben männlichen Täters – eines Mannes, der Jahr für Jahr in der Sekte weitermachen konnte.
– Natürlich gibt es nicht in jeder Zeugen-Jehovas-Familie Gewalt, aber es ist ein sehr begrenztes Umfeld, in dem man sich viel erlauben kann, ohne dass jemand eingreift. Als Kind und als Frau sollte man nie Fragen stellen, sagt Jenny und fährt fort:
– In der Hölle gibt es keine Abstufungen, Fluchen ist genauso schlimm wie der Missbrauch von Kindern. Es ist sehr schwer, darin aufzuwachsen. Als Erwachsener kann man sich aussuchen, woran man teilhaben möchte, aber nicht als Kind.
Jennys Familienmitgliedern wurde angeboten, das Buch im Voraus zu lesen – einige ihrer Geschwister haben dies getan, andere nicht. Aber ihre Mutter hat abgelehnt. Heute sind nur noch die Eltern der Journalistin und ihre älteste Schwester bei den Zeugen Jehovas; die anderen sind ausgetreten.
– Es ist belastend, sich als Sektenkind zu outen, doch es ist sehr wichtig, nicht zu denken, dass diejenigen, die dabei sind, dumm sind. Es geht um die Mechanismen des Gruppendenkens, in die jeder verwickelt und von denen jede geblendet werden kann.
Weitere Informationen zu Kindesmissbrauch bei Jehovas Zeugen finden Sie hier.