1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Am 16.08.1976 kam mein einziger Bruder bei einem Fahrradunfall ums Leben. Unsere Nachbarn hatten gerade seit einem knappen Jahr mit einem Bibelstudium bei den ZJ angefangen. Sie brachten Suppe und luden mich zu ihnen nach Hause ein. Ich war zu der Zeit 12 Jahre, die Kinder der Nachbarn waren 3 und 5 Jahre alt und ich liebte kleine Kinder. Dann luden sie uns zu ihrem Bibelstudium ein und stellten Fragen zum Sinn des Lebens, was bei uns, da mein Bruder eben mit 13 Jahren verstarb, auf Interesse stieß. Sie waren sehr präsent, luden uns zum Essen oder Kaffeetrinken ein. Ein Jahr nach meinem Bruder starb meine Oma. Da hatten wir schon 9 Monate Bibelstudium und weigerten uns, meine Oma mit Weihwasser zu bekreuzigen, auf dem Totenbett. Mein Großvater bekam dies mit und tobte. So beschlossen wir nachts durch das Fenster zu fliehen. Er drohte, meine Mutter umzubringen, da sie ihrer Mutter nicht die letzte Ruhe gönnen würde. Daraufhin nahmen die freundlichen Nachbarn uns bei sich auf. Jedes Mal, wenn wir das Haus verließen, mussten wir uns im Auto auf den Boden setzen, damit mein Großvater uns nicht sah.
2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Ich habe viel Gemeinschaft erlebt, das fand ich schön. Wir haben als Jugendliche zusammengesessen und gesungen.
Es gab sehr viel Druck, vor allem psychischen Druck. Bei jeder Versammlung – 3 x die Woche – wurde gesagt was man darf und was nicht. Ich fühlte mich irgendwann wie in einer Zwangsjacke, konnte nicht tun und lassen was ich wollte, musste immer überlegen, „Darf man das als Zeugen Jehovas?“ Ich verließ mit 15 Jahren die Schule, denn Harmagedon steht ja eh vor der Tür und man sollte eher predigen als lernen. Ich hatte das Gefühl, ich bin ein schlechter Mensch, denn wir sind ja alle Sünder und können es quasi nie recht machen.
Als wir, meine Mutter und ich, 1983 nach Deutschland zogen, war es für uns etwas sehr Positives, ein ZJ zu sein, da es überall auf der Welt Versammlungen gibt. So bekamen wir auch sofort Anschluss in der Versammlung in Passau.
Da ging ich dann auf die Berufsschule und machte ein Berufsbildungsjahr – Bürowirtschaft. Nach 3 Jahren zogen wir in einen anderen bayerischen Ort. Auch hier fanden wir wieder Anschluss an die Versammlung.
Ich ging dann auf die Berufsschule und machte die mittlere Reife. Hier fühlte ich mich zeitweise nicht dazugehörig. Ich durfte keine Geburtstage feiern, nicht mit in die Disco usw…
Das Gefühl, Gott und den Mitbrüdern und -schwestern nie gerecht zu werden, nagte schwer an mich. Immer wieder wurde in der Versammlung von Gottes Tag geredet, und dass nur die ZJ überleben werden. Das ist ganz schön bedrückend und ich fühlte permanent diese Bedrohung.
3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Nachdem ich die mittlere Reife in der Tasche hatte, entschied ich mich, auf die PTA Schule in München zu gehen. Die Brüder und Schwester der Versammlung fanden dies nicht gut, denn besser wäre es gewesen, wenn ich Vollzeitpionier sein würde.
Meine Mutter unterstütze mich in meinem Bestreben, eine wertvolle Ausbildung zu haben. In der Versammlung waren die Brüder und Schwester mir gegenüber jetzt distanziert, denn ich besuchte die PTA Fachschule in München trotzdem, obwohl von höherer Bildung abgeraten wurde. Damit wurde ich zum ‚schlechten Umgang‘. Doch gerade dadurch, dass ich mich bildete, glitt ich immer mehr von den ZJ ab. Ich ging immer unregelmäßiger zur Versammlung und lernte viel für meine Ausbildung zu Pharmazeutisch-technischen-Assistentin. Ich entfremdete mich immer mehr der Versammlung. Auch meine Mutter ging immer seltener zur Versammlung.
4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert?
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Ich war öfters Hilfspionier und versuchte eine gute ZJ zu sein. Die vielen Zwänge und Gebote, die einzuhalten sind, fühlten sich für mich erdrückend an. Immer mehr hinterfragte ich, was da gepredigt wurde. Ich war Anfang 20 und liebte Kinder. Und da wurde immer wieder gesagt, man soll keine Kinder mehr in diese Welt setzen. Das fühlte sich nicht richtig an. Genauso, dass man Menschen, die die Organisation verlassen hatten nicht mal mehr grüßen sollte, fühlte sich falsch an.
Die Blutfrage war für mich nie stimmig. Der Text der hier zitiert wird steht im Alten Testament, das Jesus ja erfüllt hat. Außerdem lehnen die Juden keine Bluttransfusion ab, obwohl auch sie diesen Bibeltext befolgen wollen.
Es gab immer mehr Ungereimtheiten für mich. Am Schlimmsten fand ich dieses Gefühl, man kann es Gott nie recht machen und dieser strafende Gott steht immer bereit, dich zu bestrafen. Meine Mutter hatte zum Glück den Bibeltext: „Wer seine Kinder liebt züchtigt sie“, nie wörtlich genommen und auch nie befolgt.
Aufgrund des Todes meines einzigen Bruders, die ewigen Schuldgefühle, nicht gut genug zu sein und die verschiedenen Umzüge, war ich depressiv. Eines Tages waren zwei Ältesten bei uns zuhause, um mit mir zu sprechen und mir zu sagen, dass es eine Sünde gegen Gott wäre, nicht leben zu wollen. Sie machten es nur noch schlimmer. Sie hatten NULL Mitgefühl. Das fühlte sich für mich nicht sehr christlich an!
5. Bist du von Ächtung betroffen?
a) Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Da ich nur peu à peu aus der Versammlung wegblieb und dann bei meinem Mann lebte, war das gar nicht so schlimm. Ich arbeitete damals mitten in der Stadt bei der Apotheke.
Heute ist es für mich echt schlimm, dass meine Mutter den Kontakt zu mir völlig abgebrochen hat. Sie hat mich allerdings immer finanziell unterstützt, solange sie konnte. Auch gegen den Willen ihres Mannes. Als ich mich vor 8 Jahren von meinem Mann trennte gab sie mir Geld für neue Möbel und bezahlte meinen Umzug. Als mir die Wohnung dann wegen Eigenbedarf gekündigt wurde, hat sie mir in Rotenburg Wümme ein Einfamilienhaus gekauft. Doch sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, als sie mit mir sprach und oft erzählte sie dies dann den Ältesten. Eine Zeitlang durfte sie beim Wachturmstudium nicht mehr antworten, weil sie Kontakt mit mir hatte. Ich weiß, dass das für sie sehr schwer ist, aber sie wird stark unter Druck gesetzt und glaubt, dass sie sonst vernichtet wird in Harmagedon.
Der Kontakt zu meiner Mutter fehlt mir.
b) Warum ächten dich diese Personen/Zeugen Jehovas?
Wie sind deine Gedanken dazu?
Die Ächtung wird verlangt und wird wenn nötig mit psychischem Druck abverlangt. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie eine Zeitlang, nicht antworten durfte in der Versammlung, weil sie einige Male mit mir telefoniert hatte. Das war eine Anweisung der Ältesten. Sie sagte mal, dass sie nicht ausgeschlossen werden möchte, weil sie dann mein Bruder nicht wiedersieht, bei der Auferstehung. Wenn Sie mir mir telefoniert hat, hat sie immer ein schlechtes Gewissen, was so schade ist, weil ich ihre einzige Tochter bin (mein Bruder starb bei einem Fahrradunfall 1976).
6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Heute habe ich ein völlig anderes Weltbild als damals und glaube trotzdem, dass es möglicherweise so ist wie ich denke, es aber auch anders sein kann. Ich bin nicht mehr felsenfest von etwas überzeugt.
Ab und zu kommt schon mal der Gedanke: “Was ist, wenn doch etwas dran ist? Und die Welt wird doch vernichtet?“ Doch das ist immer nur ein ganz kurzer Moment.
Als die Kinder klein waren bin ich hier im Norden mit den Kindern ab und zu zum Kindergottesdienst gegangen. Ich habe aber ganz bewusst darauf verzichtet, meine Kinder religiös zu erziehen. Es gab nie Zwang. Ich wollte sie ermutigen, sich ein eigenes Bild zu machen. Heute sind sie alle drei eher dem Glauben abgeneigt.
7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Für mich haben die Zeugen Jehovas meine Jugend gestohlen. Das habe ich erst gemerkt, als meine Kinder Teenager waren. Ich wusste nicht, wie lange soll ich sie mit 16 ausgehen lassen? Ist es ok, sie in die Disco zu lassen? Wird ihnen da nichts Schreckliches geschehen? Ich sprach damals mit meiner Therapeutin darüber, die mir eine große Hilfe war, denn ich kannte die richtige Welt so eben nicht.
Ich habe nie Alkohol getrunken, nie Geburtstag gefeiert, kein Weihnachten, kein Ostern. Auf der einen Seite hat mir Vieles gefehlt, auf der anderen Seite war es auch eine Lebensschule. Ich habe gelernt, dass Materielles nicht alles ist und dass es gut ist, an sich zu arbeiten. Also war nicht alles schlecht. Die Gemeinschaft der Menschen habe ich meistens genossen – solange ich fleißig im Predigtdienst war, sonst war man ja schlechter Umgang.
Ab und zu kommt noch das Gefühl hoch, nicht gut genug zu sein, nicht vor Gott nicht vor meiner Mutter – vor niemanden.
Dieses Gefühl war 1994 so schlimm, dass ich einen Suizidversuch machte und am 23.Dezember 1994 im Klinikum „Rechts der Isar“ landete, mit einer Überdosis Tabletten. Der Weg dort raus war lang – hat sich aber gelohnt. Und einer der Hauptgründe war dieses Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, was einem Tag für Tag bei den Zeugen vermittelt wird.
8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft (die sich z.B. bereits in einem Bibelstudium befinden oder sich zur Organisation hingezogen fühlen), bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Hört auf Euren Bauch und vergleicht das Verhalten der Ältesten mit Jesus Verhalten. Er hat alle willkommen geheißen und vergeben und niemanden ignoriert oder verurteilt.
Guckt mal was passiert, wenn ihr kritische Fragen stellt.
Wenn Ihr eure Familien nicht verlieren wollt, bleibt weg bei den Zeugen Jehovas.