Aufarbeitungskommission untersucht Jehovas Zeugen

Die Unabhängige Kommission zur Untersuchung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs untersucht im Auftrag der Deutschen Regierung unter anderem auch Vorkommnisse bei Jehovas Zeugen. Sollten auch Sie Betroffene/r sein, können Sie hier Hilfe finden. Betroffene aus Deutschland möchten wir ermutigen sich direkt an die Kommission zu wenden.

Bereits im ersten Zwischenbericht von 2017 werden u.a. auch Jehovas Zeugen aufgeführt:
„Die Kommission wird sich außerdem verstärkt mit Missbrauch in Institutionen des Aufwachsens befassen. Bisher bekannt gewordene Kontexte im institutionellen Bereich sind u. a. evangelische Kirche, katholische Kirche, Zeugen Jehovas, …“ (Seite 82).

Der Bilanzbericht 2019 wurde in zwei Bänden veröffentlicht. Im ersten werden die wichtigsten Punkte aus den Anhörungen von Betroffenen zusammengetragen. Der zweite Band besteht aus Berichten Betroffener, darunter eine Aussteigerin von Jehovas Zeugen (S. 46-47): 

MIA
«Vor acht Jahren bin ich von den Zeugen Jehovas ausgestiegen. Der Auslöser war Kindesmissbrauch. Und zwar nicht, weil es passiert, das kann ja überall passieren, sondern wie der Umgang mit Opfern ist. Alle sind bei dieser Sache fein herausgekommen. Alle – nur ich nicht. Aber jetzt reicht es mir und ich möchte das aussprechen. Dabei habe ich gleichzeitig das Gefühl, ich gebe ein unglaubliches Familiengeheimnis preis. Meine Eltern sind mit circa 18 Jahren zu den Zeugen Jehovas gestoßen und konvertiert. Ich bin in den Kult hineingeboren worden. Mein Vater war extrem selbstbezogen. Das ist das Anziehende am Kult, dort kann ein Mann gut aufsteigen. Mein Vater war also ein Genie. Ich war immer lästig. Mit fünf Jahren habe ich bereits gespürt, dass ich es ihm nie recht machen kann und fühlte mich fehl am Platz. Bei den Zeugen Jehovas geht man von Haus zu Haus, um die Wahrheit Gottes zu verbreiten. Während meine Eltern missionierten, passte eine Frau aus der Gemeinschaft auf mich auf. Einer ihrer Söhne war 15 Jahre alt. Ich war fünf. Plötzlich hat er sich für mich interessiert. Es war der erste männliche Mensch, der in Entzücken geriet, wenn ich da war. Das war wunderbar. Dann waren wir alleine in der Wohnung. Er zog sich die Hose aus und verlangte, dass ich ihn stimulieren sollte. Ich wusste überhaupt nicht, was das sein soll. Dass etwas nicht stimmt, wusste ich ganz genau. Stöhnen war immer ein Indiz für Schmerz. Warum wollte er jetzt, dass ich etwas mache, was ihm Schmerzen bereitet? Aber er bestand da drauf. Im Laufe der Zeit hat sich das immer mehr gesteigert, bis ich ihn oral befriedigen musste. Eines Tages kam es raus, weil ich nicht mehr hinwollte und meine Mutter sich darüber wunderte. Sie war entsetzt. Erst sprach man mit der Mutter des Täters, dann mit mir. Man flößte mir ein, dass ich mit niemandem darüber reden solle, dass es etwas ganz Schlimmes und Unglaubliches sei, was Gott nicht möchte. Und dass ich dem Täter nicht die Zukunft kaputtmachen solle. Ich war also nach Ansicht der Zeugen Jehovas an etwas beteiligt, was Gott absolut verwerflich findet. Absolution erteilen kann aber nur ein internes Kirchengericht. Das hat in der Gemeinschaft einen höheren Stand als die Bundesregierung mit ihren Gerichten. Es ist nämlich ein Gottesgericht. Da sitzen die Ältesten, die nichts vom Thema Missbrauch verstehen. Sie befragen das Kind über seine sogenannten Sünden, während die Eltern vor der Tür stehen. Wollen die Eltern zur Polizei gehen, werden sie ausgeschlossen. Das ist der soziale Tod. Meine Eltern haben in dem Moment sich und ihre Religion geschützt. Das Kirchengericht blieb mir erspart. Ohne Absolution bin ich damit aufgewachsen, mit dem „Wissen“, dass ich unwert bin. Beschädigte Ware, keine richtige Jungfrau für die Ehe. Es war meiner Mutter ungemein wichtig, dass ich als Jungfrau gelte und dass ich nie mit meinem Mann darüber spreche. Ich habe später mit meinem Mann darüber gesprochen. Er sagte mir, dass ich das Schönste bin, was er hat. Und dass ich nicht beschädigt wäre. Das ist doch schön, oder? Ich habe mehrmals versucht, mir das Leben zu nehmen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Mein Vater hat mich auch geschlagen. Wenn meine Mutter weg war, musste ich mich nackt über einen Stuhl beugen. Mein Vater hatte Spaß daran, mir die Striemen zuzufügen. Ich sah es an seinen Augen. Es ging gar nicht um die Sache. Mein Vater wollte schlagen und tat dies.
Der Täter hat sich dann weiterentwickelt in der Gemeinde. Als Ältester kann er an Kirchengerichten mitwirken. Das Kirchengericht kommt auch bei sogenannten sexuellen Verfehlungen zusammen. Wenn herauskommt, dass eine junge Frau mit einem Mann zusammen war, wird sie von diesen alten Männern befragt, ob sie Petting hatte, ob sie Sperma gesehen oder einen Orgasmus hatte. Ich bin mit 25 Jahren selbst in diese unerträgliche Situation geraten. Da wehrte ich mich und wischte ihre Fragen beiseite mit der Bemerkung, dass ich als Fünfjährige viel Schlimmeres erlebt hätte. Jahrelang hatte ich sie alle geschützt. Ich bin erst vor zwei Jahren drauf gekommen, dass meine Eltern mitverantwortlich sind und das Klima für den Missbrauch geschaffen haben. Diese Erkenntnis hat mich erschüttert. Meine Eltern haben mich für ihre Religion verkauft. Sie haben nach der Aufdeckung keine Nachsorge betrieben. Ich habe mich mithilfe einer Therapie und eines Netzwerkes zum Sektenausstieg vom Kult gelöst. Jetzt bin ich kein schweigendes Opfer mehr. Ich habe Würde. Ich bin jemand.»