ÜberLebenswege – Ariane Koch aus Mühltag

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?

Unsere Eltern wurden gefischt, als unsere kleine Schwester mit Down-Syndrom zur Welt kam. In einem kleinen Ort spricht sich das herum und die „Glaubensbrüder“ fragten sich durch den Ort, bis sie wussten, wo wir lebten. Unsere Mutter sprang direkt darauf an. Sie war schwer traumatisiert, litt schon sehr lange unter Depressionen und die Ehe unserer Eltern war sehr unglücklich. Ich war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, meine andere Schwester war drei. Als meine Eltern sich taufen ließen, war ich sieben.
Unser Vater, der bis dahin Atheist war, hatte nun endlich ein Instrument an der Hand, wie er meine Mutter in der Ehe und uns unter Kontrolle halten konnte. 

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?

Ich habe von Beginn an nicht geglaubt, was mir da erzählt wurde.
Was mich sehr zermürbt und genervt hat, war, dass das gesamte Leben sich nur noch um diese Religion drehen sollte. Jeden Tag Bibelstudium. Wachtturm vorbereiten für sonntags, was oft STUNDENLANG dauerte. „Wenn du fertig bist, darfst du zu deinen Freundinnen“. Das kam natürlich nie zustande, weil wir nie fertig wurden. Die ewigen Versprechungen, etwas mit meinen Freundinnen unternehmen zu dürfen und dann wurde es doch verboten, weil weltlicher Umgang.
Der Druck von Haus zu Haus gehen zu müssen war auch furchtbar. Wie soll ich andere Menschen von etwas überzeugen, an das ich selbst nicht glaube und denen ich am liebsten sagen möchte: rennt, wenn ihr könnt! Und die Scham, wenn mich Menschen sahen, die ich kannte.
Dieser massive Druck und die Verbote haben mich erstickt. Ich hatte sehr früh Depressionen und war mit 12 Jahren schon abhängig von Schmerzmitteln, weil ich Dauerkopfschmerzen hatte.
Die ewige „Verfolgung“ und Beobachtung durch Glaubensbrüder, die meine Eltern anriefen, wenn sie mich mit Mitschülern im Ort sahen und ich mich in ihren Augen gottlos verhielt. Die Drohungen meiner Eltern, dass meine Freunde vor meinen Augen verwesen werden, wenn Harmagedon kommt und ich mich bei ihnen befinde, die Ungewissheit, dass es mich dann auch erwischen könne. All das erzählten sie mir im Alter von 6 Jahren. Damals waren die Bilder in den Broschüren und Büchern noch sehr brutal und anschaulich, nicht mehr so harmlos und verherrlichend, wie heute.
Das Gefühl, niemandem vertrauen zu können. Wenn ich Freundinnen in der Wahrheit etwas erzählte, wussten es am nächsten Tag die Ältesten und stellten mich und meine Familie zur Rede.
Selbst meiner über alles geliebten Schwester traute ich nicht mehr, obwohl auch sie so sehr unter dieser Religion litt und mich auch fragte, ob ich denn glaube. Ich traute mich nicht, ihr diese Frage zu beantworten. 🙁

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?

Wie bereits erwähnt, war ich sehr früh medikamentenabhängig. Mit 12 Jahren begann ich auch immer wieder die Antidepressiva meiner Mutter zu klauen, weil ich den Druck nicht aushalten konnte.
Ich wollte als Jugendliche immer wieder raus, habe mich auch bewusst nie taufen lassen. Die Antwort meines Vaters war: wenn du 12 bist, hast du Religionsfreiheit. Solange tust du, was ich sage.
Mit 12 lautete seine Antwort: werd‘ du erst mal 14…
Mit 14: Solange du deine Beine unter meinen Tisch streckst…
Mit 15 kam ich zum ersten Mal mit Drogen in Berührung. Ich begann zu kiffen. Mit 16 dann Ecstasy, Amphetamine und natürlich jede Menge Beruhigungsmittel, die ich mittlerweile sogar zum Teil selbst verschrieben bekam, weil es mir so schlecht ging. Meine Mutter musste mich nach einem Kokainkonsum zu einem Psychiater fahren, weil ich mir das Leben nehmen wollte.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Versammlungsältesten jede Woche einmal zu Besuch und redeten meiner Schwester und mir ins Gewissen, weil wir so abtrünnig waren. Es gab das Verbot in der Versammlung, Flöte zu spielen (das habe ich innerlich sehr gefeiert), dann durften wir keine Antworten mehr geben und dann tatsächlich nicht mehr von Haus zu Haus gehen. Sie dachten, sie strafen mich damit. Ich ging von da an nicht mehr mit zu den Versammlungen, was natürlich zu regelmäßigen Schreiereien führte.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?

Wie bereits erwähnt, habe ich von Beginn an nicht glauben können, was mir da erzählt wurde. Die Masche hat mal recht kurz gegriffen, als sie uns eine Freundin aufs Auge drückten. Sie war die Tochter eines Ältesten in unserem Alter, die dann mit uns gemeinsam, studierte und die so furchtbar gläubig war/ist. Da hatte ich mal einen kurzen Moment, wo ich dachte, vielleicht stimmt es ja doch.
Und natürlich die Angst, mit der gearbeitet wird. Ich hatte und habe immer noch Alpträume vom Ende der Welt. Mittlerweile stellen sie sich jedoch anders dar, als in meiner Kindheit und ich bin heutzutage erstaunt über meine Phantasie.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?

Jein. Alle Mitglieder dieser Organisation haben sich natürlich von mir abgewandt, als ich nicht mehr wollte. Unsere Mutter war zu Beginn noch sehr anstrengend. Sie ließ sich von unserem Vater scheiden und beide heirateten neu. Unser Vater bekam noch zwei Kinder und starb dann leider als ich 25 war. Die neue Frau unseres Vaters ist sehr gläubig und meidet jeglichen Kontakt. Unsere Mutter ist seit dem Tod unseres Vaters „vernünftiger“ geworden. Als hätte sich ein Schalter umgelegt. Plötzlich war sie zugänglich und Familie wichtiger, als Religion. Sie hat zwar immer mal wieder ihre Weltuntergangsanfälle, wird aber von meiner Schwester und mir ganz klar in ihre Schranken verwiesen. „Das ist das, was DU glaubst! Wir nicht!“

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?

Ich war von meinem 16 Lebensjahr an bis zu meinem 40. Lebensjahr fast ununterbrochen in Therapie. Ich hatte massive Angstzustände, Depressionen, musste meine Drogensucht überwinden. Kämpfe noch immer mit einer Esssucht, die ich entwickelt habe, weil ich immer wieder das Gefühl habe, mich zu verlieren und nicht zu spüren. Ich habe extrem promiskuitiv gelebt (und manchmal tu ich das noch). Ich habe eine chronische Schmerzerkrankung, die eng in Verbindung gebracht wird mit Stress und die bereits in meiner Kindheit begann.
Ich brauche sehr lange, bis ich Menschen vertraue. Ich kann es nicht verstehen, dass meine Freundinnen mich lieben, obwohl ich NICHTS dafür tu. Meine Freundinnen hatten es sehr schwer, an mich heran zu kommen. Ich bin zwar im ersten Moment ein sehr offener Mensch, aber wehe, jemand möchte mir nah kommen…
Bei Männern habe ich fast immer das Exemplar „Narzisst“ gewählt. Männer, die mich klein machten und mir meine Würde nahmen.
Wenn ich in Stress gerate, habe ich auch heute noch Panikattacken. Allerdings erkenne ich diese als solche und kann damit umgehen.
Ich habe immer noch sehr stark das Gefühl „nicht zu genügen“. Dass, egal was ich tu, es einfach nicht reicht. Und auch oft das Gefühl, nicht die Kraft zu haben um „genügend“ zu tun. 

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?

Diese Religionsgemeinschaft hat unsere Familie zerstört und hätte mich fast mein Leben gekostet. Ich bin froh, dass ich doch eine so starke Persönlichkeit bin, dass ich das alles überlebt habe. Und dass auch meine Schwester diesen Weg mit mir gegangen ist und wir uns heute nichts mehr verheimlichen müssen. Wir halten zusammen, wie Pech und Schwefel. 

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?

Rennt. Solange ihr noch könnt.
Jeder, der sich dieser Religionsgemeinschaft anschließen möchte sollte bedenken, dass es als selbstverständlich angesehen wird, dass der Kontakt zu „Weltlichen“ (dazu gehört auch die Familie und liebe Freunde) auf ein Minimum begrenzt, bzw. abgebrochen wird. Natürlich alles auf „freiwilliger Basis“. Es ist nicht selbstverständlich, eine Mutter wie unsere zu haben, die den Kontakt trotz allem aufrechterhält.