ÜberLebenswege – Anja R. aus Bayern

1. Wie bist du zu den Zeugen Jehovas gekommen?
Ich wurde hineingeboren und habe mich mit 15 taufen lassen.
Meine Familie von väterlicher Seite war bereits seit Generationen bei den ZJ. Die Familie meiner Mutter kam dazu, als sie 6 Jahre alt war. Da wir eine recht große Familie waren, wuchs ich in einer richtigen „Zeugendynastie“ heran.

2. Wie hast du dein Leben, deinen Alltag in dieser Religionsgemeinschaft erlebt?
Kindheit – Grundschule:
Mein Alltag war rückblickend betrachtet recht einsam im Vergleich zu anderen Kindern. Ich war nie im Kindergarten und in meiner Versammlung hatte ich keine Freunde, da es keinen in meinem Alter gab. Meine Mutter bemühte sich zwar aus Nachbarversammlungen Freunde zu finden und viel zu unternehmen, aber das hat den Aufbau sozialer Kontakte nicht ersetzen können. In der Schule wurde ich dann quasi ins kalte Wasser geworfen und habe mich ab Tag 1 für die Zugehörigkeit zu den ZJ geschämt und diese immer verleugnet. Ich habe zwar viele Geschenke als Ausgleich bekommen, aber Anlässe wie Weihnachten und Geburtstag waren immer mit negativen, traurigen Gefühlen behaftet.

Weiterführende Schule:
Durch das Verheimlichen bzw. sogar Abstreiten meiner Zugehörigkeit zu den ZJ kam ich sehr gut mit meinen Klassenkameraden aus und habe jede Gelegenheit genutzt, heimlich was mit ihnen zu unternehmen. Am Peinlichsten war für mich immer der Predigtdienst und die Angst, jemand aus der Schule zu treffen, da diese ja alle nicht wissen sollten was ich bin. Ich durfte nie zu Klassenkameraden nach Hause oder gar auf Klassenfahrten. Diese Isolation hat mich sehr belastet, sodass ich meine Erlebnisse vom Wochenende mit den Freunden aus der Versammlung in abgewandelter Form erzählt habe, nur um auch irgendetwas Spannendes erzählen zu können. Die Regeln bezüglich der Partnerwahl und Sex vor der Ehe etc. waren für mich als Jugendliche auch sehr schwer zu verstehen, da doch in der Schule jeder einen Freund hatte. Ich begann auf sozialen Netzwerken mit Jungs zu chatten um etwas mitreden zu können.

Ausbildung und Arbeitsleben:
Ab dem Alter von 16/17 hatte ich dann durch meine großen Geschwister einen relativ großen Freundeskreis bei den ZJ, welcher sich aber durch diverse Hochzeiten und Umzüge rasant immer mehr verkleinerte, sodass ich am Ende wieder fast allein dastand. Der Zwang zum Predigtdienst hat mich nie glücklich gemacht. Bei jeder Klingel hoffte ich, dass keiner da ist. Es war mir einfach nur peinlich. Ich habe es als großen Stress empfunden neben Schule, Ausbildung bzw. Beruf den Predigtdienst, die Vorbereitung auf die Versammlung und die Versammlung zu stemmen. Persönliches Studium fand gar nicht statt, da ich ja auch noch etwas Freizeit haben wollte. Als ich mit 18 mobil war wurde der Drang nach ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht immer stärker und es fanden heimliche Dates statt, aber stets mit riesiger Angst irgendwo entdeckt zu werden, da ich in einer Region groß wurde, welche sehr stark mit ZJ bevölkert war. Man konnte also überall jemanden Treffen der einen kannte, da meine Mutter weit über alle Grenzen Kontakte besaß.
Als ich endlich wieder eine gute Freundin in der Nachbarversammlung gefunden hatte und diese ausgeschlossen wurde, war es für mich das schlimmste Gefühl überhaupt, sie nicht mehr grüßen zu dürfen, wenn ich sie zufällig in der Stadt traf. Und so gab es immer mehr Situationen und Dinge die mich zum Nachdenken brachten.
Kurz gesagt der Druck ein vorbildlicher Zeuge zu sein und keine Fehler zu machen ließ mich mit der Zeit zerbrechen.

3. Wie kam es, dass du nun kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr bist?
Da ich mich irgendwie schon immer fehl am Platz gefühlt hatte, entwickelte sich daraus ein Prozess. Der Ausschluss meiner Freundin brachte mich ins Grübeln bezüglich des Kontaktverbotes. Ich erfuhr aus meiner engsten Familie sexuelle Übergriffe. Mit ca. 18 begann ich im Hinblick auf Männer schon ein Doppelleben zu führen. Als ich 2015 arbeitsbedingt umziehen musste war das die Gelegenheit. Ich habe mir ein neues soziales Umfeld aufgebaut und einen Partner gefunden und gemerkt, dass die angeblich böse Welt da draußen gar nicht so böse ist. Ich war zum ersten Mal richtig glücklich und habe einen Brief verfasst, dass ich das Alles nicht mehr möchte. Somit war am 01.11.2018 endlich Schluss.

4. Wie stark warst du im Glauben und in der Gemeinschaft verankert? 
Wann und warum hast du begonnen zu zweifeln und deinen Glauben in Frage zu stellen?
Meinen Glauben würde ich entweder als nie besonders stark bis hin zu gar nicht vorhanden beschreiben.
Es war alles nur Fassade gegenüber meiner Familie, auch wenn sie mir was Anderes beigebracht hatten – nämlich den Glauben zu vertreten, weil man ihn im Herzen hat und nicht aus Liebe zur Familie. Daher war es für mich z. B. völlig unlogisch Ausgeschlossene zu meiden und sie so aus „Sehnsucht“ zur Rückkehr zu bringen. 
In meiner alten Versammlung herrschte viel Heuchelei. Es wurde gesündigt, aber die Betroffenen hatten sich immer noch als was Besseres gefühlt. Dieses aufgesetzte Dauerlächeln in der Versammlung und auf den Kongressen von Leuten, von denen man wusste, dass es hinter verschlossener Tür anders ausschaut. Dieses Elitedenken, dass nur dies die Wahrheit und echte Religion ist und alle anderen angeblich böse oder gar dämonisch von Satan geschickt sind – Ich kam damit einfach nicht mehr klar.
Meine Mutter war Pionier und mein Vater Ältester, sowie 2 meiner Brüder mit ihren Frauen im Pionierdienst bzw. sogar in Afrika tätig. Das hat alles noch mehr Druck ausgeübt nicht gut genug zu sein, weil das eigene Leben nicht so verlief. Ständig wurde ich nach meinen „geistigen Zielen“ gefragt und konnte keine zufriedenstellende Antwort geben. Es war für mich nur reines Elitedenken – Jeder der kein Pionier war, war schwach im Glauben. 
Dann habe ich erste Videos auf YouTube gesehen und dachte mir, was die geschafft haben, das schaffe ich auch. Vor allem die Videos von Sophie Jones haben mich nochmals bestärkt, da ich sie aus der Zeit bei den ZJ persönlich aus der Nachbarversammlung kannte.

5. Bist du von Ächtung betroffen? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Meine komplette Familie (Eltern, Geschwister, Großeltern, Onkel, Tanten etc.) sowie die wenigen „Freunde“ reden kein Wort mehr mit mir. Ich habe nicht mal vom Tod meiner Tante erfahren. Meine Eltern sagten mir klipp und klar, dass sie sich an die Anweisung halten. Das Schlimmste war für mich eine Aussage von ihnen, als ich zu Hause meine letzten Sachen abgeholt habe. „Wir haben deine Sommerreifen schon von Oma geholt, dass sie dich nicht sehen muss, da sie ja schon genug leidet wegen dir!“. Das war ein Schlag ins Gesicht. 
Ich suche auch keinen Kontakt aus Selbstschutz. Es gibt Tage da tut es wirklich weh, aber dann weiß ich, dass ich eine wahnsinns Ersatzfamilie gefunden und hinter mir stehen habe.

6. Wie geht es dir heute? Mit welchen Auswirkungen hast du noch zu kämpfen?
Hin und wieder vermisse ich meine Familie. Ängste gab es zum Glück keine. Nur das Trauma aufgrund der sexuellen Übergriffe hat mich eine ganze Weile verfolgt. Aber auch das geht mittlerweile wieder echt gut, sodass ich nachts nicht mehr schweißgebadet aufwache.

7. Welches Fazit ziehst du für dich persönlich aus deiner Vergangenheit?
Die Vergangenheit gehört genauso zu meinem Leben wie die Zukunft. Und sie hat mich unheimlich stark gemacht mutig zu sein, neue Wege zu gehen und eigene Entscheidungen zu treffen.

8. Welchen Rat möchtest du Interessierten der Glaubensgemeinschaft, bzw. bereits zweifelnden Mitgliedern mitgeben?
Informiert euch genauestens auf allen Wegen, die es gibt über diese Gemeinschaft. Selbst auf der Homepage der ZJ gibt es einiges zu lesen, was einen echt zum Nachdenken bringen sollte.
Mein Tipp: Einfach mal in der Suchleiste „Ausgeschlossen“ eingeben und nachlesen. Außerdem bietet YouTube viel interessanten Stoff in Form von allgemeinen Videos z.B. auf dem Kanal „Die Frage“ oder auch die mittlerweile immer mehr werdenden Berichte von Aussteigern.