Politik-Teilhabe- und Wahlverbot

Jehovas Zeugen erwecken im Allgemeinen den Eindruck, dass die Beteiligung an politischen Wahlen die freie Entscheidung jedes einzelnen Mitglieds ist.
Jeder Zeuge Jehovas entscheidet selbst auf der Grundlage seines durch die Bibel geschulten Gewissens und des Verständnisses seiner Verantwortung gegenüber Gott und dem Staat, ob er einem zur Wahl stehenden Kandidaten seine Stimme gibt oder nicht.“ (Wachtturm 1.11. 1999 S. 28-29)

Verbot der Teilnahme an politischen Wahlen und politischer Teilhabe

Auszüge aus dem gedruckten Religionsrecht

In neueren Publikationen bestehen Jehovas Zeugen jedoch darauf, dass sich ihre Mitglieder politisch streng neutral verhalten. Dazu gehören auch Wahlen.
Teilnahme an politischen Wahlen … Sie selbst bleiben jedoch in politischen Angelegenheiten streng neutral … Wie sollte sich ein Christ bei Wahlpflicht verhalten? … könnte ein Christ … die Wahlkabine aufsuchen … Er wird allerdings darauf achten, nicht seine Neutralität zu verletzen.“ (Bewahrt euch in Gottes Liebe S. 213 – 214)
Dies läßt nur den Schluss zu, dass er keine gültige Stimme abgeben darf.

„Wir respektieren zwar Staatssymbole, aber wir würden weder die Fahne grüßen noch die Nationalhymne singen. Diener Jehovas treffen die persönliche Entscheidung, weder eine politische Partei noch einen Politiker zu wählen.“ (Bleib in Gottes Liebe S. 244)

„Wir … wählen weder eine Partei noch einzelne Kandidaten, bewerben uns nicht um politische Ämter “ (jw.org/über uns/oft gefragt)

Sanktion

Mit welchen Sanktionen muss ein Mitglied rechnen, wenn es seine Neutralität bewußt und nachhaltig verletzt, indem es von seinem Wahlrecht Gebrauch macht?

In dem geheimen Buch nur für Älteste wird definiert:

Jemand schlägt einen Weg ein, der die christliche Neutralität verletzt: (lvs S. 60-63, 244) Schließt sich jemand einer nicht neutralen Organisation an, hat er die Gemeinschaft verlassen […] Das Verlassen der Gemeinschaft geht von dem Betreffenden aus und nicht vom Komitee. Daher gibt es keine Berufungsmöglichkeit. Dass der Betreffende kein Zeuge Jehovas mehr ist, wird – ohne sieben Tage abzuwarten – in der nächsten Zusammenkunft unter der Woche bekannt gegeben.“ („Hütet die Herde Gottes“ Okt.. 2022, Kap. 18, Punkt 4)

Bei dem Verfahren wird zwar bei der Formulierung darauf geachtet, dass „das Verlassen der Gemeinschaft von dem Betreffenden ausgeht und nicht vom Komitee.“ Tatsächlich stellt in diesem Fall nicht das Mitglied einen Austrittsantrag, sondern ein Komitee stellt das „Verlassen“ fest. Außerdem ist der grundsätzliche Ablauf wie auch bei einem Ausschluss-Verfahren. In diesem Fall wird ein Zeuge Jehovas also automatisch von der Gemeinschaft ausgeschlossen, sozial geächtet und mit einem Kontaktverbot belegt.

Gerichtsurteil betätigt Verbot

„Die Zeugen Jehovas sind insgesamt als Bewegung zu bewerten, welche fundamentale Menschenrechte missachten […] Ferner wird das Wahlrecht insoweit nicht geachtet als die Zeugen Jehovas dazu angehalten sind nicht an staatlichen Wahlen teilzunehmen […] Die Organisation ist subversiv […] Es kann auch durch passives Verhalten bewirkt werden, z.B. durch politisch neutrales Verhalten und nicht an staatlichen Wahlen teilzunehmen.“ (Landgericht Hamburg, 27. November 2020, Az. 324 0 434/18

Interview zweier Vorstandsmitglieder

Die Vorstandsmitglieder der Zeugen Jehovas Pohl und Rudtke bestätigen in dem Interview „Wer wählen geht, fliegt raus“ (Focus 17.09.2013), dass die Folge einer Wahlbeteiligung zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führt:

„FOCUS: […] Aktive Beteiligung an irdischen Staatsformen dagegen lehnen die Zeugen Jehovas ab. Das betrifft nicht nur den Wehr- und den Zivildienst, sie dürfen nicht einmal wählen. Warum eigentlich?

Pohl: Jesus sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Und zu seinen Jüngern sprach er: „Ihr seid kein Teil von dieser Welt.“ Daher ist es nicht erstaunlich, daß sich kein Zeuge Jehovas in eine Partei begibt. Wir wollen uns von der Welt unbefleckt erhalten. Deshalb wählen wir auch nicht.

FOCUS: Und wenn nun doch ein Zeuge dabei beobachtet wird?

Pohl: Wir würden ihm sagen, daß das nicht unserer Erkenntnis der Bibel entspricht und daß wir seinen Schritt leider so betrachten müssen, als ob er diese Überzeugung aufgegeben habe. Wenn er dann erklärt, daß er zum Beispiel von seinem Ehepartner dazu überredet worden sei, mag ihm Barmherzigkeit erwiesen werden, und er bleibt Glied der Gemeinde.“

Die Formulierung „als ob er diese Überzeugung aufgegeben habe“ und „mag ihm Barmherzigkeit erwiesen werden und er bleibt ein Glied der Gemeinde“ macht deutlich, dass der Betreffende, falls er sein Verhalten nicht bedauert und davon Abstand nimmt, aus der Gemeinde ausgeschlossen wird.

Ein Verstoß führt damit zu sozialer Ächtung und Kontaktverbot – auch innerhalb der Familie.

Erlebnisberichte zweier Betroffener

Ein Betroffener schildert in seinem ÜberlebensWeg, wie er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und geächtet wurde, weil er in eine politische Partei eintrat und an Gemeinderatswahlen teilnahm.

Eine andere Aussteigerin berichtet ebenfalls in ihrem Bericht unter der Rubrik ÜberlebensWege, wie der Besuch einer „Black-Live-Matter-Demonstration“ zu ihrem Ausschluss führte.

Weiterführende Erläuterungen

Dürfen Jehovas Zeugen wählen? Barbara Kohout diskutiert die Anweisungen aus dem Wachtturm vom 1. 11. 1999 und die Erläuterungen aus dem Taschenlexikon „Unterredungen anhand der Schriften“.
Sie selbst kommt zu dem Entschluss, sich an der Europawahl 2019 zu beteiligen und fordert auch alle Zeugen Jehovas auf, von ihrem Wahlrecht gebrauch zu machen.

Wir als Verein fordern Jehovas Zeugen KdöR auf, ihren Mitgliedern die Teilnahme an politischen Wahlen ohne Stigmatisierung und Sanktionen zu erlauben (siehe Aufruf zur Europawahl vom 15.04.2019).

Wahlverbot ist strafbar

Strafgesetzbuch § 108 Wählernötigung

(1) Wer rechtswidrig mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel, durch Mißbrauch eines beruflichen oder wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses oder durch sonstigen wirtschaftlichen Druck einen anderen nötigt oder hindert, zu wählen oder sein Wahlrecht in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.

Weitergehende Informationen zur Stigmatisierung von politischer und gesellschaftlicher Partizipation finden Sie hier.